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Darum kann Schmerz chronisch werden

Was ist Schmerz überhaupt?
Ein Leben ohne Schmerz – wäre das nicht schön? Ohne das Pulsieren im Kopf? Ohne die Rückenschmerzen, die einen schon beim Aufwachen quälen, oder das Brennen auf der Haut, wenn man zu lang in der Sonne lag? Jein. Menschen, die aufgrund eines Gendefekts keine Schmerzen empfinden, leben im Schnitt kürzer. Viele sterben schon in der Kindheit, weil sie körperliche Defekte nicht bemerken. Schmerz ist unsere körpereigene Sirene. Geht sie los, stimmt meist etwas nicht. Ein Schnitt im Finger, die Hand auf der Herdplatte, eine Verätzung durch einen chemischen Reiniger.
Direkt unter der Haut liegen die sogenannten Nozizeptoren, freiliegende Nervenendungen. Sie senden über die Nervenfasern Signale ans Rückenmark, die – wenn sie stark genug sind – von dort zuerst an die Muskelzellen weitergeleitet werden. Wir ziehen reflexartig die Hand von der Herdplatte, Sekundenbruchteile bevor wir überhaupt den ersten Hitzeschmerz wahrnehmen. Dann erreicht das Signal den Thalamus – das Tor unseres Bewusstseins. Hier im Zwischenhirn werden fast alle Sinneseindrücke in andere Hirnregionen weitergeleitet. Jetzt spüren wir den ersten, oft stechenden Schmerz und wissen, wo es wehtut. Wir halten die betroffene Stelle unter kaltes Wasser, um sie zu kühlen. Schon jetzt sind unsere körpereigenen Schmerzmittel aktiv. Dazu zählen unsere inneren Opiate, Enkephaline und Endorphine, sowie absteigende Bahnen aus Serotonin und Noradrenalin. Sie werden mit dem ersten Signal aktiv und hemmen die Wahrnehmung des Schmerzes. Denn sobald das Gehirn alle nötigen Schmerzdaten hat, verliert der Schmerz seinen Sinn.

Vom akuten zum chronischen Schmerz
Was aber, wenn der Schmerz bleibt, wenn er über die normale Heilungszeit andauert, wenn es scheinbar keine Ursache mehr gibt? Die International Association for the Study of Pain (IASP) definiert Schmerz unabhängig von einer körperlichen Ursache als eine unangenehme sensorische und emotionale Erfahrung, die mit einer tatsächlichen oder potenziellen Gewebeschädigung verbunden ist oder dieser ähnelt. Er wird dann als chronisch bezeichnet, wenn er länger als drei Monate andauert. Demnach leidet fast jeder fünfte Deutsche an nicht tumorbedingten chronischen Schmerzen, meist im Nacken, Rücken oder in den Schultern. Der Schmerz hat seine Warnfunktion verloren und wird durch körperliche, psychische und soziale Faktoren aufrechterhalten. Forschende vermuten, dass die Zahl der chronisch Erkrankten aufgrund der Corona-Pandemie nochmals steigen könnte.

Wie verändert Schmerz den Körper?
Lang anhaltender Schmerz kann unseren Körper umstrukturieren. Nervenzellen werden sensibilisiert, unser Rückenmark und unser Gehirn verändern sich. Forschende unterteilen die Schmerzchronifizierung in drei Phasen. In Phase 1 spüren wir den „ersten“ – oft stechenden – Schmerz. „Phase 1 dauert so lange an, wie der Reiz da ist“, sagt Prof. Rolf-Detlef Treede von der Medizinischen Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg. Doch verschwindet der Reiz, spüren wir oft trotzdem noch einen dumpfen Schmerz. Eine Brandblase tut auch ohne Hitze weh. Das liegt daran, dass schon jetzt Phase 2 einsetzt und die erste Sensibilisierung im verletzten Gewebe, im Rückenmark und im Gehirn erfolgt, unter anderem durch die Freisetzung der Überträgerstoffe L-Glutamat und der Substanz P. Der Körper erinnert sich an den Schmerz, Nervenzellen reagieren empfindlicher, auch schwache Signale werden an das Gehirn weitergeleitet. Forschende nennen die Extremform der Sensibilisierung Allodynie – auch bei einer leichten Berührung schmerzt die Stelle. „Im Grunde haben wir eine solche Langzeitpotenzierung nach jeder Verletzung“, sagt Treede. So sorgt unser Körper dafür, dass wir uns schonen. Im Normalfall verschwindet diese Sensibilisierung nach der Heilung wieder. Doch bei einem Teil der Patient:innen setzt Phase 3 ein. Der Schmerz bleibt.
Treffen über eine längere Zeit aus einer Körperregion Schmerzreize ein, dann strukturiert sich auch das Gehirn um. Für jede Stelle sitzen im somatosensorischen Cortex der Großhirnrinde Nervenzellen – nur dass manche Stellen wie die Lippen viel größer repräsentiert sind als etwa Arme und Beine. Wird ein Körperteil nun empfindlicher, vermehren sich die für diesen Teil empfindlichen Nervenzellen, der Gehirnbereich wird umorganisiert und reagiert verstärkt auf einkommende Reize. Forschende gehen davon aus, dass diese Umstrukturierung wieder rückgängig gemacht werden kann – allerdings braucht es dafür Zeit und Geduld.

Psyche und Körper sind eng miteinander verknüpft
Dauer und Intensität des Schmerzes können dazu beitragen, dass ein Schmerzgedächtnis entsteht. Doch sie erklären nicht alleine, wieso bei manchen Personen Schmerz chronisch wird. „Wir haben bei Patienten und Patientinnen eine unterschiedliche Anfälligkeit für Konditionierung und Langzeitpotenzierung festgestellt“, sagt Treede. Welche Faktoren dafür verantwortlich sind, dass Schmerz chronisch wird, und in welchem Verhältnis diese zueinander stehen, ist allerdings noch nicht abschließend geklärt. Konsens besteht aber darüber, dass biopsychosoziale Faktoren – sogenannte yellow flags – eine Chronifizierung begünstigen. Vor allem bei Rückenschmerzen geben sie konkrete Hinweise auf eine negative Entwicklung. Dazu zählen Depressivität, negativer Stress, Katastrophisieren oder das Vermeiden von Bewegung. Doch psychische und soziale Faktoren werden immer noch oft unterschätzt.

Finden Ärzt:innen keine Ursache, reagieren sie deshalb nicht selten mit Unverständnis. „Sie haben nichts“, müssen sich Betroffene dann oft anhören, wenn die Magnetresonanztomografie (MRT) ergebnislos bleibt. Sie verzweifeln, werden depressiv. Jeder Vierte, der unter chronischen Schmerzen leidet, hat Todeswünsche, jeder Siebte Suizidgedanken. Viele wünschen sich eine „Schmerzpause“. Betroffene, die zudem von Depressionen gequält werden oder zur Katastrophisierung neigen, haben häufiger solche Gedanken als Menschen, die hoffen, mit dem Schmerz fertigzuwerden.

Welchen Einfluss haben unsere Gene auf unser Schmerzempfinden?
Ein Aus-Knopf für chronischen Schmerz ist für viele ein Traum. Forschende suchen deshalb nach Genen, die unser Schmerzempfinden beeinflussen. Sie wollen diese gezielt deaktivieren und so eine Therapie entwickeln, die nicht süchtig macht und Schmerzen dauerhaft lindert. Ganz so einfach ist das allerdings nicht, denn an unserem Schmerzempfinden sind viele Gene beteiligt. Es gibt aber tatsächlich sogenannte Schmerzgene, die einen größeren Anteil an unserer Schmerzwahrnehmung haben als andere. Bei Menschen mit einer Funktionsverlust-Mutation im SCN9A-Gen ist beispielsweise das Protein NaV1.7 inaktiviert, sie spüren keinen Schmerz. Fast jeder kennt vermutlich die Geschichten von Menschen, die über brennende Kohlen laufen, ohne mit der Wimper zu zucken. Forschende fanden heraus, dass manche Fakire diesen Gendefekt haben. Es gibt aber auch den umgekehrten Fall: So kann eine Funktionsgewinn-Mutation im SCN9A-Gen zur Überaktivierung von NaV1.7 führen. Bei der Krankheit Erythromelalgie kommt es zu extremen Schmerzen sowie zu Rötungen und erhöhter Hauttemperatur an Armen und Beinen.
In einer Studie manipulierten Forschende deshalb an Mäusen das Enzym CAs9, das für die Ablesung des entsprechenden Gens verantwortlich ist. Sie spritzen ihnen eine entzündungsauslösende Substanz in die Pfote und testeten anschließend deren Schmerzempfindlichkeit. Während Mäuse ohne Gentherapie mehr Zeit damit verbrachten, ihre Pfote zu schütteln oder zu lecken, zeigten Mäuse mit der Gentherapie keine verstärkten Reaktionen auf die Schmerzreize. Das Interessante: Die normale Sensibilität bei gesunden Pfoten war auch bei den Mäusen mit dem manipulierten Enzym nicht beeinträchtigt. Doch bis zu den ersten klinischen Studien mit Menschen ist es noch ein weiter Weg.

Der Einfluss der Gene auf unsere körpereigene Schmerzhemmung
Bei unserem Schmerzempfinden spielen auch die COMT-Gene eine Rolle. Sie bestimmen, wie schnell Adrenalin, Dopamin und Noradrenalin abgebaut werden – Botenstoffe, die bei Schmerzen oder Stress aktiv werden und die bei unserer körpereigenen Schmerzhemmung eine Rolle spielen. Bei Personen mit der Val/Val-Variante ist die COMT-Aktivität erhöht; sie sind schmerzresistenter und haben einen höheren körpereigenen Opiatspiegel. Bei Menschen mit der Val/Met-Variante liegt die Schmerzempfindlichkeit in der Mitte – und Menschen mit der dritten Variante, der Met/Met-Variante, sind schmerzempfindlicher und haben ein höheres Risiko, beispielsweise eine Fibromyalgie zu entwickeln, eine Krankheit mit diffusen Schmerzen in verschiedenen Gliedmaßen. Rund zehn Prozent der Schmerzempfindlichkeit lässt sich auf diese Varianten zurückführen.

Doch es gibt viele weitere Gene, zu denen Wissenschaftler:innen forschen und die unser Schmerzempfinden beeinflussen. Insgesamt schätzen Forschende auf Basis von Studien mit Inzuchtstämmen von Mäusen, dass 30 bis 76 Prozent in der Varianz durch genetische Faktoren erklärt werden können.

Warum ist es ungünstig, bei Schmerzen zu viel Angst zu haben?
Seit ein paar Wochen schmerzt dein Kreuz. Nur warum? Ständig grübelst du, was du dagegen tun könntest, du kannst kaum noch an etwas anderes denken. Du glaubst, dass es niemals besser wird – oder denkst: Das kann nur etwas wirklich Schlimmes sein. Du hast das Gefühl, es nicht mehr aushalten zu können. Hast du diese Gedanken, dann neigst du zur Katastrophisierung – ein Faktor, der in der Forschung als Risiko zur Chronifizierung von Schmerz gilt. So hatten in einer Studie, an der 1571 Personen teilnahmen, sich nach sechs Monaten vor allem bei den Personen mit erhöhter Schmerzkatastrophisierung und erhöhter schmerzbezogener Angst vor Bewegung chronische Rückenschmerzen entwickelt.
Menschen, die katastrophisieren und Angst vor Schmerz haben, scannen jeden Reiz an ihrem Körper aufmerksam und neigen dazu Bewegungen zu vermeiden, bei denen sie davon ausgehen, dass sie den Schmerz verstärken könnten. Kurzfristig kann das die Angst reduzieren, langfristig trägt es aber zur Aufrechterhaltung und Steigerung des Schmerzes bei. Statt langsam wieder Sport zu treiben, wird auf Treppensteigen und Spaziergänge verzichtet, die Muskulatur baut ab, wird anfälliger für Verletzungen, die Gefahr, depressiv zu werden, steigt. Ein Teufelskreis aus körperlichem und emotionalem Schmerz, der in der Wissenschaft als Fear-Avoidance-Model oder auch als Angst-Vermeidungs-Modell bekannt ist. Umso wichtiger ist es, dass zwischen dem Behandelnden und den Betroffenen keine Fehlkommunikation stattfindet. Eine Verunsicherung der Patientin oder des Patienten durch Arzt oder Ärztin kann auch zu einer stärkeren Katastrophisierung und zu einer größeren Angst vor Schmerz führen.

Durchhalten, dann gehen die Schmerzen wieder weg – ist das sinnvoll?
Neben Menschen, die Bewegung vermeiden, gibt es aber auch Personen, die sich sagen: „Ich muss durchhalten. Ich schaff das.“ Die Medizinerin Prof. Monika Hasenbring von der Ruhr-Universität Bochum identifizierte in einer Studie zwei weitere Gruppen, bei denen durch ihre Bewältigungsstrategie keine Linderung der Schmerzen eintrat. 177 Patient:innen mit subakuten, unspezifischen Rückenschmerzen wurden rekrutiert. Subakut wurde hier als Schmerz, der noch nicht länger als drei Monate anhält, definiert. Mit einem Fragebogen wurde ermittelt, ob die Patient:innen zur Katastrophisierung neigen, depressive Symptome aufweisen, wie stark ihre Schmerzen sind und wie sie mit diesen umgehen. Die erste Gruppe blieb bei Schmerzen optimistisch, sie hatte Spaß an der Bewegung. „Aktivitäten haben in diesem Fall einen belohnenden Charakter“, sagt Hasenbring. Das kann aber dazu führen, dass die Muskulatur zu sehr belastet wird. Nach sechs Monaten hatte sich bei dieser Gruppe immer noch keine Verbesserung der Symptome eingestellt.
Die zweite Gruppe wurde angetrieben von der Angst um die Existenz. Sie fürchtete die Konsequenzen im Alltag mehr als den Schmerz selbst. „Die Patienten und Patientinnen haben Angst, nicht mehr arbeiten zu können, deshalb halten sie ihre Aktivität aufrecht“, erklärt Hasenbring. Die Folge: Die Muskulatur überlastet, der Schmerz verschlimmert sich, das Risiko, eine Depression zu entwickeln, steigt. Nach sechs Monaten hatte sich bei dieser Gruppe die Behinderung im Vergleich zu den anderen stark vergrößert. Hasenbring sagt: „Nur wenn es gelingt, eine Balance zwischen Erholung und Belastung zu finden, kann eine Chronifizierung vermieden werden.“

Können Depressionen zu chronischem Schmerz führen?
Studien haben gezeigt, dass Depression und chronischer Schmerz oft gemeinsam auftreten. So fanden Forschende bei einer Befragung von 1179 Amerikanern und Amerikanerinnen aus Michigan heraus, dass 7,7 Prozent unter dieser Doppelbelastung litten. Oft kann nicht mehr festgestellt werden, welche Krankheit zuerst da war, klar ist aber: Depression und Schmerz verstärken sich und führen immer weiter in eine Abwärtsspirale.
Depressionen und Schmerzen haben gemeinsame biologische Bahnen und Neurotransmitter. Bei einer Depression sind die Botenstoffe Serotonin, Noradrenalin und Dopamin aus dem Gleichgewicht. Bei einem Mangel dieser Neurotransmitter verliert das modulierende Schmerzsystem seine Wirkung, sodass unbedeutende Signale aus dem Körper verstärkt werden, in den Fokus rücken und so wiederum zu Angst oder depressiven Gefühlen führen. Es gibt erste Untersuchungen, die zeigen, dass Antidepressiva, die Serotonin und Noradrenalin erhöhen, sowohl die Schmerzen als auch die Depressionen verringern.

Für Betroffene, die unter Depressionen und unter chronischen Schmerzen leiden, ist ein ganzheitliches Behandlungskonzept wichtig. Das Problem: Oft erkennen Ärzte und Ärztinnen die Depression nicht. Denn es kommt vor, dass Patient:innen ausschließlich über körperliche Beschwerden klagen.

Manche Betroffene haben auch Angst, dass ihre Schmerzen sonst nicht ernst genommen werden und verschweigen psychische Probleme. Die Folge: Sie bleiben im Teufelskreis aus emotionalem und körperlichem Schmerz stecken.

Schlechte Erfahrungen und chronischer Schmerz – wie hängt das zusammen?
Unsere Erfahrungen in der Kindheit prägen uns im Erwachsenenalter. Aber haben sie auch Einfluss darauf, ob Rückenschmerzen chronisch werden oder ob man an Fibromyalgie erkrankt?
Studien untersuchten, ob Missbrauch in der Kindheit bei der Entwicklung chronischer Schmerzen eine Rolle spielt. So stellte eine Metaanalyse fest: Menschen, die über ein erlebtes Trauma berichten, litten mit 2,7-facher Wahrscheinlichkeit an chronischen Krankheitszuständen, bei denen die Funktion eines oder mehrerer Organe gestört ist, obwohl es keine Verletzung gab.

Sexueller und psychischer Missbrauch in der Kindheit korreliert in einem Großteil der Studien allerdings immer dann mit chronischem Schmerz, wenn Betroffene zudem unter einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) leiden. Rund die Hälfte der Opfer von sexueller Gewalt, aber auch Überlebende von Naturkatastrophen oder schweren Unfällen, entwickeln eine solche.

Albträume oder Flashbacks quälen sie. Situationen, die sie an das Erlebte erinnern, weichen sie aus. So klagten in einer kanadischen Untersuchung in der Gruppe mit einer PTBS 46 Prozent und in der Gruppe ohne PTBS 20,6 Prozent über chronische Rückenschmerzen. Unklar ist bislang aber, ob eine Störung die andere bedingt, ob sie sich gegenseitig aufrechterhalten oder ob ein dritter Faktor den Zusammenhang erklärt.

In der Forschung wird das „Perpetual-Avoidance-Model“ – eine Erweiterung des „Fear-Avoidance-Models“ – als mögliche Erklärung für die Korrelation von chronischem Schmerz und einer PTBS diskutiert. Betroffene, die ein traumatisches Ereignis erleben, stehen unter einer erhöhten Anspannung, die das Schmerzempfinden, aber auch die Überzeugung, dass Bewegung den Schmerz erhöht, verstärkt.

Körperliche Symptome werden missinterpretiert – zum Beispiel Herzrasen als Vorzeichen einer Bewusstlosigkeit. Bestimmte Situationen werden vermieden, der Schmerz verstärkt sich. Allerdings gibt es noch nicht genügend Studien, um dieses Model zu belegen.

Haben unsere Beziehungen einen Einfluss darauf, ob Schmerz chronisch wird?
Eltern, Partner:in und Kolleg:innen prägen unsere Persönlichkeit, unser Verhalten und können sogar Einfluss auf unser Schmerzempfinden nehmen. So konnte beispielsweise eine Studie aus Neuseeland, bei der 169 Patient:innen mit akuten oder subakuten Rückenschmerzen über einen Zeitraum von sechs Monaten viermal befragt wurden, zeigen: Patient:innen, die am Arbeitsplatz soziale Unterstützung erfuhren, entwickelten weniger wahrscheinlich anhaltende Schmerzen. Soziale Unterstützung erwies sich also als Schutzfaktor, eine resignierte Haltung gegenüber der Arbeit dagegen als Risikofaktor.
In einer größer angelegten Studie mit 6675 Teilnehmenden wurde zudem der Einfluss von Mobbing auf die Chronifizierung von Schmerz untersucht. Forschende befragten Arbeitnehmer:innen aus zwölf finnischen Krankenhäusern, ob sie Schmerzen hätten und wie zufrieden sie mit ihrer Arbeit seien. Wer dabei angab, unter Mobbing zu leiden, hatte ein vierfach höheres Risiko, zwei Jahre später an einer Fibromyalgie erkrankt zu sein.

Andere Studien konnten einen Zusammenhang von Mobbing in der Kindheit und chronischem Schmerz feststellen. Wer gemobbt wird, steht unter Dauerstress und das kann wiederum chronischen Schmerz begünstigen – so die Theorie. Allerdings gab es auch Studien, die keinen Zusammenhang zwischen Mobbing und chronischem Schmerz feststellten. Das Problem: Viele der Studien beruhen auf Selbstauskünften oder nutzen unterschiedliche Definitionen.

Sind Frauen Sensibelchen?
Studien haben gezeigt: Frauen reagieren sensibler auf schmerzhafte Reize wie Druck oder Kälte. Doch sie leiden nicht nur stärker, sondern auch häufiger – vor allem an chronischem Schmerz. In Europa sind 56 Prozent der Personen mit chronischem Schmerz Frauen. Egal ob Migräne, Reizdarmsyndrom oder Fibromyalgie: Fast alle Schmerzarten treten häufiger bei Frauen auf. Liegt das daran, dass Männer in vielen Kulturen keine Schwäche zeigen wollen und Frauen ermutigt werden, Gefühle und auch Schmerzen mitzuteilen? Nehmen sie einfach häufiger an Studien teil? Oder empfinden Männer weniger Schmerz, weil sie als Jäger einen Vorteil hatten, wenn sie Schmerz weniger wahrnehmen?
Es sind mehrere Faktoren, die den Unterschied zwischen Männern und Frauen beeinflussen. Neben psychosozialen Einflüssen spielen auch die Hormone und die endogene Schmerzmodulation eine Rolle. Je mehr Östrogen und Progesteron, desto mehr endogene Opioide wie Enkephaline und Endorphine werden ausgeschüttet und desto weniger schmerzempfindlich ist eine Frau. Gegen Ende der Schwangerschaft steigt deshalb auch der Progesteron- und Östrogenspiegel – das macht den Geburtenschmerz erträglicher. Während einer Schwangerschaft leiden Frauen auch weniger an Migräne, aber nach der Geburt – wenn der Östradiolspiegel abfällt – nehmen die Anfälle wieder zu.

Die Hormone erklären den geschlechtsspezifischen Unterschied allerdings nur zum Teil. Es gibt eine ganze Palette an psychosozialen Faktoren, die dafür mitverantwortlich sein könnte, dass Frauen häufiger von chronischen Schmerzen gequält werden. Depressionen, die posttraumatische Belastungsstörung, Dauerstress – alles Faktoren, die in Zusammenhang mit chronischen Schmerzen gebracht werden und unter denen Frauen häufiger leiden als Männer. Aber auch wie wir Schmerzen bewältigen, hat einen Einfluss darauf, wie wir diese wahrnehmen und ob sie chronisch werden.

Männer setzen eher auf verhaltensbezogene Ablenkung und problemorientierte Taktiken, Frauen auf soziale Unterstützung und das Katastrophisieren, das allerdings chronischen Schmerz begünstigt. In einer Studie, bei der 80 Teilnehmende in Eiswasser untertauchten, berichteten Frauen über stärkere Schmerzen als Männer und gaben häufiger katastrophisierende Gedanken an. Das kann auch daran liegen, dass Frauen damit soziale Unterstützung generieren wollen. Forschende vermuten, dass einmal erlernt, viele diese Strategie selbst dann noch verwenden, wenn der erhoffte Effekt ausbleibt. Und zu guter Letzt: Auch mit welchen Geschlechterrollen wir aufwachsen, beeinflusst unsere Schmerzreaktion. Studien haben gezeigt: Sowohl Frauen als auch Männer glauben, dass Männer weniger bereit sind, über Schmerzen zu berichten.

Was kann man gegen chronischen Schmerz tun?
Oft haben Menschen, die unter chronischem Schmerz leiden, schon eine Odyssee an Arztbesuchen hinter sich. Das kann belastend sein. Doch viele Ärzt:innen sind selbst ratlos, wenn gängige oder medikamentöse Therapien nicht anschlagen. Auch deshalb dauert die Leidensgeschichte der Betroffenen meist Jahre.
Neue Therapien nehmen nach dem biopsychosozialen Modell auch soziale und psychische Faktoren in den Blick. Adressen für Betroffene mit chronischem Schmerz sind deshalb in erster Linie Schmerzzentren, bei denen Ärzt:innen und auf Schmerz spezialisierte Psychotherapeut:innen körperliche, psychische und soziale Faktoren in den Blick nehmen. Dazu gehören neben einer medikamentösen Behandlung auch Entspannungsübungen, Stressbewältigung oder Therapien mit ganzheitlichem Ansatz.

Interdisziplinär-multimodale Schmerztherapie
Mit der „Interdisziplinären Multimodalen Schmerztherapie“ (IMST) wollen Behandelnde auch psychische Faktoren, die Schmerzen aufrechterhalten, eliminieren. In der Forschung ist die Therapie inzwischen als ganzheitliche Behandlung vor allem für chronische Rückenschmerzen anerkannt, denn Studien liefern immer wieder Indizien, dass die Therapie erstens chronische Schmerzen reduziert und zweitens die Kosten der Behandlung senkt.

So zeigte beispielsweise eine Studie an 45 Patient:innen mit chronischen Nackenschmerzen: Wer zusätzlich zur manuellen Therapie (eine spezielle Form der Physiotherapie) eine Behandlung erhält, die auch Bewältigungsstrategien und Selbstwirksamkeit in den Fokus nimmt, hatte nach zwölf Wochen weniger Schmerzen als die Personen mit der alleinigen manuellen Therapie.

In der Praxis unterscheiden sich die Angebote in den Schmerzzentren allerdings erheblich in der Qualität, eine Schmerzklinik sollte deshalb mit Bedacht ausgewählt werden.

In einem systematischen Review schlagen Forschende Mindeststandards für die Therapie vor: gezieltes individuelles Training, regelmäßiges Training von Entspannungstechniken, einmal pro Woche Gruppentherapie unter Leitung eines klinischen Psychologen oder einer Psychologin, einmal pro Woche eine Patientenschulung, zweimal physiotherapeutische Behandlungen für Schrittmacherstrategien, medizinische Trainingstherapie und neurophysiologische Informationen durch einen geschulten Arzt oder eine Ärztin. Die Deutsche Schmerzgesellschaft hat deshalb auf ihre Website eine Checkliste für eine gute Schmerzklinik gestellt.

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