Die Legende von der Burg Lockenhaus

DIE LEGENDE VON DER BURG LOCKENHAUS

Vor sechshundert Jahren wurde das feste Schloss Lockenhaus, das den Tempelrittern gehörte, von den Truppen des ungarischen Königs Karl Robert belagert. Viele Lockenhauser verteidigten mit den Rittern die Burg. Die Belagerung dauerte schon fünf Monate, und dreissigmal hatten die Königlichen versucht, in die Burg einzudringen. Doch alle Anstrengungen waren vergebens, die tapferen Verteidiger schlugen alle Angriffe zurück.

In einem kleinen Haus in Lockenhaus wohnte die Weberswitwe Martha mit ihrer achtzehnjährigen Tochter Bärbi. Es war Abend. Sie sassen am Spinnrocken und spannen fleissig. Auf einmal klopfte es leise an der Tür, und eine tiefe männliche Stimme wurde hörbar:

»Bärbi, ich bin’s, der Hubert! Ich muss mit dir reden.« Das Mädchen liess ihn ein und schloss die Tür wieder zu. Hubert, ein grosser, kräftiger junger Mann, war Bärbis Bräutigam. Er war einfach gekleidet, mit einem kurzen Schwert bewaffnet, denn auch er gehörte zu den Verteidigern der Burg.

»Wo kommst du her?« fragte ihn die Alte. »Wollt ihr endlich einmal das Schloss übergeben?«

»Oho, Mutter! In Nacht und Nebel schickt man keine Friedensboten aus und auch nicht mich, einen einfachen Knecht.«

»Was wird denn geschehen?« fragte Martha weiter.

»Die Herren wollen ihr Schloss bis zum letzten Blutstropfen verteidigen und fallen, wie es christlichen Helden ziemt«, sprach Hubert mit blinkenden Augen. »Wir alle haben auf die Hostie geschworen, so lange zu kämpfen, als einer den Arm zu rühren vermag. Vielleicht kommt noch Entsatz. Bis dahin sollen sich die königlichen Ritter und Knechte an den Mauern von Lockenhaus die Schädel blutig rennen. Sie sollen die Teiche durchschwimmen und die Felsen erklettern. Unsere Morgensterne und Stachelkolben werden ihnen noch manchen Bug in die Helme klopfen. Viele werden noch vor unseren Mauern in die Tiefe stürzen. Wir kämpfen bis zum letzten Mann.«

»Wenn nicht der Hunger wäre«, bemerkte die Alte.

Schweigend und düster schüttelte Herbert den Kopf. Und dann sprach er zu dem Mädchen: »Sie hat leider recht. Brot und Fleisch geht auf die Neige. Wir haben nichts mehr als Wein im Keller und Mut im Herzen.«

Nach einer längeren Pause erzählte Hubert dem Mädchen, zu dem er sich auf die Bank gesetzt hatte, warum er gekommen war. »Mich haben die Templer durch den unterirdischen Gang, der oben im Wald am Hirschenstein mündet, ausgeschickt, um Brot und Fleisch zu kaufen. Um schweres Geld haben mir die Bauern ein paar Stück Vieh und einige Säcke Korn verkauft. Meine Begleiter haben alles schon ins Schloss geschafft. Ich muss noch weiter Lebensmittel kaufen und auskundschaften, ob keine Hilfe kommt. Da habe ich mich durch die feindlichen Wachen geschlichen und bin zu dir gekommen. – Was wird aus dir werden, Bärbi?«

Da stiess plötzlich von aussenjemand die Tür auf, und ein in Eisen gewappneter Ritter trat in die Stube. Es war Odilo, ein Ritter aus dem Heere des Königs. Ihn hatte das Licht in der Stube zur Hütte gelockt. Als er Hubert, der auf seinem Mantel das rote Templerkreuz aufgenäht trug, erblickte, wollte er ihn gefangennehmen. Doch rasch entfloh Hubert durch die offengebliebene Tür. Von Angst um sein Schicksal getrieben eilte ihm Bärbi nach und hinterher der Ritter. Dieser blies in sein Horn, das er an einer Kette trug.

Alsbald eilten Kriegsknechte herbei und nahmen das Mädchen gefangen. Hubert, der dies sah, stürzte auf die Feinde los. Nach einem kurzen Kampf mit der Übermacht wurde er zu Boden gerissen und entwaffnet. Am nächsten Morgen wurde er gebunden vor den feindlichen Oberbefehlshaber geführt.

»Bereite dich zum Tode! Wir haben in dir einen Kundschafter der Templer erkannt. Auf den nächsten Baum am Felsen wirst du aufgeknüpft, damit dich deine Herren sehen sollen.«

»Mein Leben steht in Gottes Hand!« erwiderte der Geselle.

»Wir wollen Gnade üben«, sprach nun Ritter Odilo. »Wähle zwischen dem Leben oder dem Tod durch die Henkersknechte. Wenn du unsere Fragen genau beantwortest, schenken wir dir das Leben.

Sage, wie lange reicht noch euer Mundvorrat, wieviel Mann sind im Schlosse, wie seid ihr mit Wasser ausgerüstet und wo ist der schwächste Teil der Burg?«

»Herr Ritter!« sprach der Templerknecht. »Ihr habt euch in mir geirrt. Ihr könnt mich martern, aber verraten werde ich meine Herren nicht.«

»Du könntest dich täuschen«, sprach ein anderer Ritter, »wir werden dich foltern lassen.«

»Ich bin ein wehrloser Knecht«, erwiderte Hubert, »wenn es Euch ritterlich erscheint, mich zu peinigen, tut es; meine Herren würden es mit ihren Gefangenen nicht tun. Aus meinem Mund werdet Ihr den Laut des Schmerzes, aber keine Silbe des Verrats hören.«

»Wir werden es auf eine Probe ankommen lassen!« sprach der Oberste. »Ich frage dich zum letztenmal: Wie steht es auf der Burg?«

»So gut, als es nur auf einer belagerten Burg stehen kann«, sprach Hubert. »Wir können unsere Mauern dreifach Mann an Mann umstellen, der Mundvorrat an Fleisch und Brot reicht noch auf ein Jahr. In unsern Rüstkammern sind noch Schwerter und Streitäxte genug, die Burg ist überall gleich fest und, wie ihr wisst, von einem tiefen Teich, hohen Felsen und dicken Mauern umge­ ben.«

»Wir wissen, dass ein geheimer Gang aus dem Schloss ins Gebirge führt. Wo ist der zu finden?« fragte ein Ritter.

»Da hat man euch belogen«, erwiderte Hubert.

»Ei, wie bist du denn aus der Burg gekommen?«

»Durch eine kleine Pforte wurde ich an einem Seil herabgelassen ins Gebüsch. Dort stand ein Kahn, mit dem bin ich über den Teich gefahren. Der Kahn wurde dann mit einem Seil wieder hinüberge­ zogen.«

»Du lügst!« schrie der Oberste. »Wir wissen, dass du durch einen unterirdischen Gang die Burg verlassen hast. Den verrate uns, und wir schenken dir Leben und Freiheit.«

»Nein!« entgegnete Hubert mutig.

»Führt ihn in die Schmiede!« befahl nun der Oberste. Hubert wurde in die Schmiedewerkstätte geführt, wo ein halbes Dutzend Lanzenknechte auf ihn wartete. Die Ritter waren gefolgt und um­ stellten den grossen Amboss, der in der Mitte der Werkstätte stand.

Hubert wurde entkleidet und zu Boden geworfen.

Während die Knechte eine eiserne Klammer und einen Nagel glühend machten, rief jemand: »Gebt ihm fünfzig Mark Silber, und er wird sagen, was ihr wollt!«

»Wohlan, du unerschrockener Knecht«, begann aufs neue ein Ritter, »du sollst uns nicht geizig schelten, fünfzig Mark Silber werden dir zugewogen, dann führe uns aufs Schloss.«

»Ich bin kein Verräter!« sprach Hubert kurz.

Das Gebläse der Schmiede schnaubte, dass die Funken sprühten, die Knechte schürten die Kohlen. Unterdessen sprach Ritter Odilo mit dem Befehlshaber.

Schon zogen die Knechte die glühenden Eisen aus dem Feuer und näherten sich dem armen Gesellen, der mit geschlossenen Augen und ausgestreckten Armen am Boden lag. Da trat Ritter Odilo heran und gab ihnen Halt.

»Steh auf.« befahl er dem Gefangenen. »Du bist arm und willst die Bärbi heiraten. Wir geben dir viel Geld – aber führe uns in die Burg!«

Lange stand Hubert sprachlos; er blickte bald auf das Feuer, bald auf die russige Decke der Schmiede. Dann sank er mit einem lauten »Nein!« auf die Knie und hielt seine fiebernde Stirn an den Amboss.

»Führt ihn ins Freie, gebt ihm einen Becher Wein und seine Kleider, dann führt ihn zu mir!« befahl Ritter Odilo. Hierauf wandte er sich an den Befehlshaber und flüsterte ihm ins Ohr: »Die Burg ist unser, nur eine Probe mehr, und er gibt nach.«

Die frische Luft hatte den Burschen bald gestärkt. Er sass ruhig im Schatten eines Baumes, bewacht von den Knechten und dachte an Bärbchen und an seine Herren.

Nach einer Weile trat Ritter Odilo an ihn heran und befahl ihm, ihm zu folgen.

Begleitet von einigen Bewaffneten gingen sie dem nahen Walde zu.

Dort stand Bärbchen mit Stricken an einen Baum gefesselt, die Augen mit einem weissen Tuch verbunden, vor ihr sechs Armbrustschützen mit eingelegten Pfeilen und straff gespannten Sehnen.

»Wenn du uns nicht in die Burg führst, wird das Mädchen erschossen!«

Mit Angst und Entsetzen vernahm Hubert diese furchtbaren Worte. »O Gott, was soll ich tun!« rief er aus. »Ich muss zum Verräter werden, denn sonst wird Bärbi getötet.«

»Sage uns nun, wann wirst du uns die Burg öffnen?«

»Heute nacht«, sprach Hubert, »was Böses geschehen soll, muss schnell geschehen.«

»Hubert, Hubert!« rief da plötzlich eine weibliche Stimme, und Bärbchen drängte sich durch die Soldaten und stürzte leichenblass auf Hubert zu.

»Du bist gerettet, Bärbchen, und frei!« sprach ruhig der Jüngling.

»Hubert, um Gottes willen, was willst du tun?«

»Lass das Fragen, ich kann nicht anders«, entgegnete er.

Am Nachmittage führte Hubert dreihundert königliche Krieger in den Wald zur Felsenschlucht, in die der geheime Gang mündete. Er holte aus einem Versteck mehrere Fackeln, entzündete sie und drang mit mehreren Rittern in den Gang ein.

Über eine Stunde war Hubert mit seinen Begleitern bei dem fahlen Schein der Fackeln fortgeschlichen, als ein eisernes, aus starken Stäben zusammengefügtes Gitter den Weg versperrte. Es war von innen verriegelt und mit einem starken Schloss versperrt.

»Ihr müsst hier warten. Vor Mitternacht noch öffne ich euch dieses Gitter. Jetzt aber geht hundert Schritte über die Biegung des Ganges zurück, damit der Schein eurer Fackeln euch nicht verrate!«

Hubert blieb allein. Nach einer Viertelstunde erschien ein Graubart, begleitet von zwei bewaffneten Knechten. Beim Gitter angelangt, rief er: »Holla! Die Losung!«

»Hoffen auf Gott!« war Huberts Antwort.

»Bist du es endlich? Deine Kameraden sind längst schon da mit Mehl und Vieh. Wir hatten schon Angst um dich.« Er schloss das Gittertor auf und versperrte und verriegelte es wieder sorgfältig.

»Rede, wo warst du so lange?«

»Erlasst mir jetzt die Rede. Meine Kehle ist trocken wie ein Feuerschwamm. Kaum bin ich dem Stricke entgangen. Ich musste raufen wie ein Bär und wurde gehetzt wie ein Hirsch. Das werde ich euch bei einem Krug Wein in eurer Kammer erzählen.«

Sie stiegen nun aufwärts in dem gewölbten Gang, bis sie eine eisenbeschlagene Tür aus schwerem Eichenholz erreichten. Auch diese wurde geöffnet und sorgsam wieder verschlossen. Sie traten in eine kleine Halle, und von da kamen sie unter dem dritten Torbogen der Feste Lockenhaus wieder ans Tageslicht.

Hubert erstattete Bericht. Als es zu dämmern begann, ging er mit dem Burgvogt und dem Kellermeister in den Weinkeller.

Während er die beiden Alten mit seinen Abenteuern unterhielt, tranken diese so viel, dass sie in Schlaf sanken, worauf Hubert die Schlüssel an sich nahm.

Die Nacht rückte vor. Ein helles Licht schimmerte aus dem Versammlungssaal der Ritter, wo sie sich nach der Abendandacht zur Beratung eingefunden hatten. Der Oberste der Tempelherren ermahnte die Brüder, auch weiter so tapfer auszuharren wie bisher.

»Treu bis in den Tod!« hallte es aus dem Mund der Tempelritter.

Nach einer längeren feierlichen Pause fragte der Grossmeister: »Wo ist Hubert, unser braver Knecht?«

»Er schläft bereits«, antwortete ein junger stattlicher Ritter. »Er ist todmüde. Die Feinde sind ihm dicht auf den Fersen gewesen, einem Wunder verdankt er seine Rettung. Er ist ein braver, treuer Knecht.«

»Lasst ihn ruhen! Wer weiss, was der morgige Tag bringt; der Feinde Rückzug könnte nur eine List sein. Wer hat die Wache auf den Aussen werken?«

»Bruder Friedrich und Bruder Stephan«, meldete ein älterer Ritter. »Die Knechte sind froh und guter Dinge. Der neu ange­ kommene Mundvorrat und Hubert’s Beispiel hat sie wieder neu beseelt. Sie werden treu aushalten wie bisher!«

»Wir haben keinen Verräter in unseren Mauern! Wachet und betet, und der Herr der Heerscharen und der Könige, der alles wohlmacht, wird uns schützen!« rief der Greis.

Und zum frommen Gebet liess sich der greise Meister auf die Knie nieder. Ihm folgte die Schar der Ritter, die hier unbewaffnet erschienen waren. Über ihren Kleidern trugen sie den weissen Mantel mit dem roten Kreuze auf der rechten Schulter. In heiliger Andacht waren sie niedergekniet zum Gebet.

Da klang plötzlich verworrenes Rufen und das Geschrei Verwundeter im Vorhof. »Verrat!« donnerte die Stimme des Ritters Stephan in der Vorhalle. Doch eine Lanze durchbohrte seine Brust. Im Torbogen fielen die Knechte auf ihren Posten. Über ihre Leichen stürmten die Königlichen herein.

Krachend sprang die Flügeltür der grossen Halle auf. Ein Pfeilhagel schwirrte herein, und die Ritter, Lanzenknechte und Schützen des Königs drangen ein.

»Wir sind verraten! Wir fallen mit Gott!« Diese Worte des Anführers waren noch hörbar. Die Tempelritter bemächtigten sich der an den Wänden hängenden Waffen. Und nun begann ein furchtbarer Kampf.

Auf einen Haufen zusammengedrängt, fochten die Templer wie die Löwen, doch erlagen sie schliesslich der grossen Übermacht. Nicht einer entrann dem Tod. Auch von des Königs Kriegern waren viele unter den verzweifelten Streichen der Verratenen gefallen.

Die Sieger schleppten jetzt Geldsäcke, Weinfässer, Kirchengefässe und alles Bewegliche aus dem Schlosse und zündeten dieses hierauf an. In das Geprassel der Flammen und das Gepolter der einstürzenden Mauern mischte sich der Lärm der zechenden Soldaten.

Ein Teil der Söldner und Knechte der Tempelritter war im allgemeinen Tumult entwichen.

Hubert stand mit verstörter Miene auf dem Walle an der schroffsten Seite des Schlosses und sah betäubt und starr dem entsetzlichen Schauspiel zu.

Da nahte Ritter Odilo und führte das blasse Mädchen herbei, das mit ihrem wild aufgelösten Haar und scheuen Blick einer Wahnsinnigen glich.

»Du hast dein Wort eingelöst, Hubert!« rief der Ritter. »Nun sollst du auch deinen Lohn erhalten.«

Der Jüngling trat nun auf das Mädchen zu und stammelte: »Ich konnte nicht anders.«

»Weh dir und mir!« schrie das Mädchen. »Du hast deinen Schwur gebrochen, du bist zum Verräter geworden! Du allein bist schuld an dem Tode der vielen braven Männer! Wir müssen deine furchtbare Tat mit unserem Tode sühnen!« Und mit der Kraft des Wahnsinns erfasste sie Hubert und stürzte sich mit ihm in die grausige Tiefe.

Jahrhunderte waren vergangen. Die Halle aber, wo Ströme des edlen, unschuldigen Blutes geflossen waren, heisst noch immer die Bluthalle. Dunkle, schwarzrote Flecken an den Wänden und auf dem Boden erinnern an jenes Blutbad, dessen Spuren keine Zeit und kein Wasser des Himmels wegzuwaschen imstande sind. Die gespenstischen Gestalten der gefallenen Ritter zogen seitdem zur mitternächtlichen Stunde durch die Halle.

Als ein neuer Besitzer des Schlosses die Wände in der Halle tünchen und die Blutspuren auf dem Fussboden tilgen liess, erschien der Gespensterzug zum letzten Male unter Kampfgetümmel und Schlachtenruf. Und am andern Morgen waren die alten Blutspuren deutlicher zu sehen als je. Seit der Zeit wagt niemand, die Flecken der Bluthalle zu tilgen.