Eine “Steueroase” mitten in Deutschland ist aufgeflogen!

Es ist eine der merkwürdigsten Geschichten, die eine Steuerfahndung in Deutschland jemals ermittelt hat. Geschäftsleute aus München, die millionenschwere Geldanlagen verwalteten, mussten sich angeblich eineinhalb Jahrzehnte lang mit einem äußerst karg ausgestatteten Büro im Wald begnügen; im tiefsten Ebersberger Forst. Eine der wenigen Verbindungen zur Außenwelt soll lange Zeit ein Faxgerät gewesen sein, das aber offenbar gar nicht funktionierte.
Nicht einmal ein Waschbecken gab es, und erst recht keine Toilette. Um sich zu erleichtern, sollen die Geschäftsleute, die ab und an zu Sitzdiensten vorbeikamen, gezwungen gewesen sein, einen Biergarten aufzusuchen. Oder sich ins Auto zu setzen und zu einer Tankstelle zu fahren. Oder einfach in den Wald zu gehen

Über die unhygienischen Zustände soll sich aber niemand beim Arbeitgeber beschwert haben; einem international agierenden Finanzkonzern. Konnte der sich wirklich keine Toilette für seine Millionenverwalter leisten? Wohl kaum. Ganz so schlecht geht es der Hypo-Vereinsbank (HVB), die zu
italienischen Unicredit gehört, nicht.

Jahrelang hat eine sechsköpfige Ermittlungsgruppe aus Rosenheim untersucht, was in dem Schuppen vor sich ging. Oder besser gesagt: was dort in den Jahren 2004 bis 2018, als etliche Firmen aus dem HVB-Konzern in dem Stadl offiziell ansässig waren, eben nicht geschah.
Der Fall hat bereits viele Schlagzeilen gemacht. Neu ist, was die Rosenheimer Steuerfahndung alles herausgefunden hat. Das Ermittlungsergebnis, das der Staatsanwaltschaft München II vorliegt, fällt eindeutig aus. Das Büro im Wald sei eine Fiktion gewesen, um den Fiskus zu täuschen und von den niedrigen Gewerbesteuersätzen des Landkreises Ebersberg zu profitieren. Die Gewerbesteuer fiel dort nicht einmal halb so hoch aus wie in München, wo die Geldverwalter tatsächlich gearbeitet haben sollen. In modernen Büros natürlich, mit Toiletten und Waschbecken. Der Firmensitz im Wald soll erstunken und erlogen gewesen sein.
Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen sieben Beschuldigte aus dem HVBKonzern, die der Steuerhinterziehung in Millionenhöhe verdächtigt werden. Ein Teil der mutmaßlichen Delikte soll allerdings verjährt sein. Die BeFirmensitz im Ebersberger Forst: Eine seltsame Steueroase – SZ.de
schuldigten können sich nach Angaben der Staatsanwaltschaft derzeit zu den Untersuchungsergebnissen äußern. Bis zu einer etwaigen Anklage, einem etwaigen Prozess und einer etwaigen Verurteilung gilt die Unschuldsvermutung. Auch wenn die Rosenheimer Steuerfahndung von einer erheblichen kriminellen Energie ausgeht.
Eine Milliarde Euro soll der Schaden durch deutsche Gewerbesteueroasen betragen Der Landkreis Ebersberg musste inzwischen 23,5 Millionen Gewerbesteuer an die Stadt München überweisen. Das hatte der Fiskus aufgrund der mittlerweile vorliegenden Erkenntnisse verfügt. Was der Landkreis aber nicht hinnehmen will und beim Finanzgericht München dagegen klagt. Das Landratsamt teilte auf Anfrage der SZ mit, man wolle „auch weiterhin alle rechtlichen Möglichkeiten“ ausschöpfen, um das viele Geld zurück zu bekommen. Man sei davon ausgegangen, dass der Seegrasstadel tatsächlich als Firmensitz genutzt wurde. Sollte die Justiz zum Ergebnis kommen, dass dies nicht der Fall gewesen wäre, dann wären sowohl der Fiskus wie auch das Landratsamt „getäuscht“ worden.
Das Verfahren am Finanzgericht München läuft noch, ebenso wie das Ermittlungsverfahren, das viele groteske Details zutage förderte. Die HVB erklärte auf eine umfangreiche Anfrage der SZ: „Wir kooperieren in voller Transparenz mit allen involvierten Behörden. Bitte haben Sie Verständnis,
dass wir laufende Ermittlungen nicht näher kommentieren.“
Die Beschuldigten waren für Fondsgesellschaften der HVB aus dem Unternehmensbereich Wealth Cap (Vermögenskapital) tätig, der das Geld vermögender Leute gewinnbringend in Flugzeuge investierte. Die Düsenjets wurden erst vermietet und später verkauft. Geschäftspartner der Fonds waren
Tochtergesellschafter bekannter Fluglinien, darunter die spanische Iberia.
Diese Tochterfirmen waren nach Erkenntnissen der Rosenheimer Ermittlungsgruppe in international gefragten Steueroasen ansässig. Etwa auf der zwischen Großbritannien und Irland gelegenen Insel Isle of Man. Oder auf den Cayman Islands in der Karibik.
Steueroasen gibt es freilich auch mitten in Deutschland. In Grünwald, PulFirmensitz im Ebersberger Forst: Eine seltsame Steueroase – lach und Gräfelfing bei München und etlichen anderen Orten. Dort sind
Zehntausende Firmen ansässig; vor allem wegen der niedrigen Gewerbesteuer. Dienstleister, die sich auf diese Klientel spezialisiert haben, werben mit „virtuellen“ Firmenbüros. Anrufe und die Post werden weitergeleitet; am Ort selbst muss eigentlich niemand sein.
Durch solche Oasen sollen jenen Städten, in denen die betreffenden Unternehmen eigentlich ansässig sind, rund eine Milliarde Euro im Jahr entgehen. So lautet eine Schätzung des Netzwerks Steuergerechtigkeit, das unter anderem von Gewerkschaften und Kirchen getragen wird. In seinem Jahrbuch 2023 listet das Netzwerk zehn große Gewerbesteueroasen auf, in denen sich die dort ansässigen Firmen Abgaben in Höhe von 735 Millionen Euro ersparten. Ziemlich vorne mit dabei: Grünwald und Gräfelfing.
Das viele Geld fehlt in den Städten und Gemeinden, die den Schaden haben, für Kindergärten, Schulen und vieles andere. Was die Frage aufwirft: Warum durchleuchtet der Fiskus nicht seit Jahren systematisch verdächtige Firmensitze in Gewerbesteueroasen?

Die Antwort ist ganz einfach: weil Finanzämter, die Briefkastenfirmen entlarven wollten, Zehntausende zusätzliche Steuerfahnderinnen und -fahnder bräuchten.
Der Fall Ebersberg dokumentiert, welchen Aufwand der Fiskus selbst bei einem besonders absurden Firmensitz treiben muss, um gegen eine mutmaßliche Steuerhinterziehung in Millionenhöhe vorzugehen. Sechs Fahnderinnen und Fahnder haben vier Jahre lang intensiv ermittelt, inklusive Razzien und verdeckten Telefonanrufen, ehe sie sich sicher waren, ein schmutziges Treiben sauber nachweisen können. Und das nicht nur mit den unhygienischen Verhältnissen vor Ort, die nach Ansicht der Steuerfahndung
arbeitsrechtlich nicht in Ordnung gewesen wären.
Toilettenräume müssen sich in der Nähe der Arbeitsplätze befinden; im selFirmensitz im Ebersberger Forst: Eine seltsame Steueroase. Der Fußweg zu den WCs sollte, das schreibt die Rechtslage vor, nicht länger als 50 Meter sein, er darf hundert Meter nicht überschreiten und sollte nicht durchs Freie führen.

Dort sei sie aber nie gewesen, und einen Schlüssel für diese Toilette habe sie auch gar nicht gehabt. Ansonsten habe man sich ins Auto setzen und zu einer Tankstelle in der nächstgelegenen Stadt fahren müssen. Es habe sich um eine Tankstelle an einem Kreisverkehr gehandelt.
Ein anderer Zeuge aus dem HVB-Konzern gestand unreine Machenschaften. Das Biergarten-WC sei in der Regel zugesperrt. Natürliche Bedürfnisse müsse man im Wald erledigen, gab der Zeuge zu Protokoll.
Der HVB-Mann kontrollierte auch den Anrufbeantworter des Festnetztelefons. Manchmal sei da gar nichts drauf gewesen. Und wenn doch, dann sei das oft Werbung gewesen. Fest installierte Heizung? Fehlanzeige. Es gebe nur eine kleine Elektroheizung und einen kleinen Heizlüfter. Ob die jemals benutzt wurden?

Der Geschäftsführer merkte in einer Mail sarkastisch an, er habe dort einen Nachmittag mehr auf die meditative Art verbracht. Ein Kollege notierte später, man könne ja auch offline Mails bearbeiten und diese anschließend verschicken, wenn wieder eine Internetverbindung bestehe.
Wenige Jahre später, im April 2013, bat ein Mitarbeiter darum, die trostlose Zeit im Forsthaus besser nutzen zu können. Und wieder ein paar Jahre später, im Juli 2016, ersuchte eine Finanzstrategin einen Kollegen um Hilfe. Ob der vielleicht einen Studenten kenne, der Zeit und Lust habe, in den Wald zu
fahren. Die Bürozeiten seien mittwochs von 9 bis 10 Uhr. Laut einer internen Notiz galt es einfach, Anwesenheitszeiten zu besetzen. Und bestimmte Urkunden sollten nur mittwochs und freitags unterzeichnet werden, als Ort sei immer Ebersberg einzutragen, lautete eine Maßgabe.
Noch absurder wurde das Geschehen im Ebersberger Forst, als die Süddeutsche Zeitung Anfang April 2016 die Panama Papers veröffentlichte, zusammen mit vielen anderen Medien. Als die Hinterleute vieler Briefkastenfirmen weltweit plötzlich sichtbar wurden und in der Folge auch das angebliche Büro im Wald in den Fokus geriet.

Der Bayerische Rundfunk; RTL und Spiegel interessierten sich für Briefkästen im Wald, was im HVB-Unternehmensbereich Wealth Cap offenbar Panik auslöste.
Es genügte plötzlich nicht mehr, von einem untergeordneten Mitarbeiter die Post holen zu lassen. Die neue Maßgabe lautete, jetzt müsse jemand in den Wald fahren, der „möglichst geschäftsmäßig gekleidet“ sei. Ein Manager in Nadelstreifen, der sich mit Aktenkoffer in den Stadl begibt? Bei den HVB-Firmen muss man große Angst vor peinlichen Fernsehbildern gehabt haben. Die Jalousien sollten herunterlassen werden. Eine Mitarbeiterin hatte einen noch besseren Vorschlag: Ein PC, Telefonbücher und aktuelle Prospekte sollten zu sehen sein. „Falls mal die Presse durch das Fenster schaut.“
Nicht von Holzscheune reden, Stadl klinge charmanter Ein Wealth-Cap-Sprecher gab dem Landratsamt Ebersberg sogar Tipps, wie man am besten auf Presseanfragen reagiere: Das Wort Steueroase vermeiden. Nicht von Holzscheune reden, Stadl klinge charmanter. Den Namen der HVB-Mutter Unicredit nicht nennen. „Wir möchten nicht im Rampenlicht stehen. Im Idealfall reicht Investment Manager aus.“ Und noch einen
Wunsch hatte der Wealth-Cap-Sprecher: „Unterholz klingt abwertend und Firmensitz im Ebersberger Forst: Eine seltsame Steueroase trifft es auch nicht. Das ist ja auf einer Lichtung und nicht unter den Bäumen.“ Das Landratsamt teilte dazu auf Anfrage mit, man gebe Presseauskünfte „stets nach eigener Entscheidung“.
Zwei Jahre später war es wieder ruhiger geworden um den Seegrasstadl und die Millionenverwalter wähnten sich offenbar erneut in Sicherheit. Der Mann, der die Post holte, radelte am 1. August 2018 in kurzer Hose mit dem E-Bike zum Stadl. Sommerausflüge durch den Wald waren ja auch viel schöner als Millionengeschäfte im Wald. Was bei Wealth Cap und überhaupt bei der HVB niemand wusste: Die Rosenheimer Steuerfahndung observierte inzwischen den vermeintlichen Firmensitz und startete verdeckte Testanrufe. Eine der beiden Telefonnummern war tot, bei der anderen nahm meistens niemand ab. Und wenn sich doch jemand meldete, dann stets nur mit „Ja“. Kein Firmenname, nichts.
Im Oktober 2018 folgte eine Razzia. Staatsanwaltschaft und Steuerfahndung notierten akribisch, was sie im Seegrasstadl vorfanden: ein älteres, nicht betriebsbereites Faxgerät; einen PC, der zweieinhalb Jahre zuvor zuletzt benutzt worden war, wie eine spätere Auswertung ergab; Prospekte und andere Unterlagen, alles mehrere Jahre alt; zudem leere Flaschen und Servietten. Aktuelle Geschäftsunterlagen habe man nicht entdeckt.
Der Mitarbeiter aus dem HVB-Konzern, der sich um die Post kümmerte, musste nach Erkenntnissen der Steuerfahndung manchmal in München geschriebene Briefe in Ebersberg in den Briefkasten werfen. Offenbar, um mit einem Ebersberger Poststempel die Empfänger zu täuschen.
Und noch eine Aufgabe hatte der HVB-Mann: im Sommer das Unkraut entfernen, das beim Seegrasstadl wucherte. Der Grund dafür war bereits 2008 in einer firmeninternen Mail nachzulesen: „Es soll ja nicht ganz verlassen wirken.“

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