Templer - Blog

Herzog von Berry Stundenbuch

APRIL:

In diesem Verlobungsbild offenbart sich der ungeahnte Zauber
jener überfeinerten höfischen Kultur, die sich damals über das
gesamte Abendland ausbreitete und deren künstlerischer Ausdruck,
trotz der leicht abgewandelten örtlichen Erscheinungsformen,
etwas erstaunlich Gemeinsames hat, nämlich jenen
Drang zur verklärenden Schönheit, die eine betörende Süsse
erfüllt und ein sanftes Fliessen weicher Linien umschmeichelt.
Ferne der Lebenslüge, träumte sich der damalige Künstler über
die Härten des Lebens hinweg.
Links, auf einer Wiese, stehen sich zwei junge Leute gegenüber
und wechseln in Gegenwart von Zeugen die Verlobungsringe
aus. Ihre sehr schlanken Gestalten sind in reiche, farbenfrohe
Gewänder gehüllt. Der Mann mit der seltsamen roten
Kopfbedeckung und dem blauen, goldbestickten Überkleid,
der sogenannten Houppelande, mit Schleppärmeln, die am Saum
ausgezackt sind, ist der Verlobte; das violettgekleidete Mädchen
mit der Pelzhaube und den bunten Straussenfedern, ganz in der
Erscheinung, wie Kinder von Prinzessinnen träumen, hält in
den zierlich gespreizten Fingern den Ring. Neben dieser prächtigen
Gruppe kauern zwei Hoffräulein im Gras und pflücken
mit unüberbietbarer Anmut die ersten Frühlingsblumen. Die
Falten ihrer Kleider verraten in der schmiegsamen Anordnung
den herrschenden Zeitgeschmack. Ein Bild der Liebe und der
Menschlichkeit bietet sich unseren Augen dar. Rechts, in dem
ummauerten Garten, blühen bereits die gepflegten Obstbäume.
Die Mauer sowie die Gebüsche und Bäume stellen die Verbindung
mit dem Hintergrund her, aus dem wiederum ein Schloss
des Herzogs von Berry ragt. Es ist Dourdan. Wir wissen aus
den Inventarien des Herzogs, dass er dort einen beträchtlichen
Teil seiner erlesenen Schätze aufbewahrte. Sich naiv bescheidend,
schmiegt sich die kleine Stadt mit ihren winzigen Häusern
an die mächtigen, türmebewehrten Bauten des Schlosses. Unweit
desselben haben auf einem teichartigen Gewässer zwei
rudernde Fischer das Netz ausgeworfen. Es ist, als wollte der
Künstler damit andeuten, dass alles Glücksuchen ein Auswerfen
der Netze in die unergründbaren Tiefen des Schicksals sei,
und dass es das bedeutsame Ereignis einer Verlobung gestatte,
auf diese Tatsache anzuspielen.

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