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„Jule Stinkesocke“: Rollstuhl-Bloggerin als Fake entlarvt

Die querschnittsgelähmte Kinderärztin Julia Gothe alias „Jule Stinkesocke“ galt als einer der großen deutschen Twitter-Stars. Bis zu 70.000 Followers teilten, likten und kommentierten die Beiträge der Hamburgerin regelmäßig. Und jetzt das: „Jule Stinkesocke“ ist weder Ärztin noch behindert – und scheinbar noch nicht mal eine Frau.

Hinter dem Blog und dem Twitter-Account verbirgt sich mutmaßlich ein Mann mittleren Alters, der sich im Internet offenbar alle Mühe gegeben hat, seine wahre Identität zu verschleiern. Eine Lehrerin, die auf Twitter als „pudelskernspin“ (24.000 Follower) unterwegs ist, hat „Jule Stinkesocke“ nach einer ausgiebigen Recherche inzwischen als Markus Werner bzw. Markus Lindenberg identifiziert.

‚Bestes deutsches Blog‘ und ‚Mutmacherin‘
Die Geschichte von „Jule Stinkesocke“ beginnt im Jahr 2009 mit einem Blog, auf dem eine Lebensgeschichte erzählt wird, die zu Tränen rührt. Demnach soll Julia Gothe im Jahr 1992 in Hamburg geboren worden und seit einem „Schicksalsschlag“ im Jahr 2007 – ein Auto soll sie damals angefahren haben – an den Rollstuhl gefesselt sein. In der Folge sei in ihr der Entschluss gereift, Medizin studieren und als Kinderärztin praktizieren zu wollen.

Schon damals hätte die treue Leserschaft des Blogs stutzig werden können, wenn nicht sogar müssen. Denn „Jule Stinkesocke“ berichtete immer wieder aus ihrem Alltag als vermeintliche Kinderärztin und über ihre größtenteils diskriminierenden Erfahrungen als Behinderte. Das Grundstudium der Humanmedizin umfasst zwölf Semester und dauert damit mindestens sechs Jahre. Daran schließt sich eine fünfjährige Ausbildung als Facharzt für Kinderheilkunde an.

Im Jahr 2012 wurde der Internetauftritt von „Jule Stinkesocke“ von der Deutschen Welle als „Blog des Jahres“ ausgezeichnet, im Jahr 2014 wurde sie von der Aktion Mensch zur „Mutmacherin“ gekürt. Wohl auch deshalb eröffnete die Bloggerin noch im selben Jahr einen Twitter-Acount und fuhr fortan zweigleisig.

Porno-Sternchen muss für das Profilbild herhalten
Und an dieser Stelle hätte „Jule Stinkesocke“ zum zweiten Mal auffliegen müssen. Das Profilbild, das sie als ihr eigenes ausgab, zeigte in Wirklichkeit die australische Pornodarstellerin Kylie Harris. Aufgefallen ist das offenbar niemandem oder man wollte es eben nicht so genau wissen.

Konkrete Zweifel wurden erst laut, nachdem sich die vermeintliche Kinderärztin bei medizinischen Fragen wiederholt nicht ganz sattelfest zeigte – und wohl auch, weil „Jule Stinkesocke“ es letztlich schlicht auch übertrieben hat. Irgendwann tauchte auf Twitter auch eine „Helena“ auf, die als Pflegetochter der Bloggerin ausgegeben wurde und – man ahnt es – natürlich ebenfalls im Rollstuhl sitzen sollte. Nachdem dieser Account als Fake entlarvt worden war, stieg auch das Interesse am „Mutter“-Account.

Verräterisches Impressum
Im Impressum des Blogs, wo Klarnamen-Pflicht herrscht, wurde als Verantwortlicher für die Seite ein gewisser Markus Werner angegeben. Die Lehrerin alias „pudelskernspin“ fand heraus, dass es einen Mann mit diesem Namen in Hamburg gibt und dieser zumindest in den Jahren 2016 und 2019 Vorstand eines inklusiven Sportvereins war, der sich auf Angebote für Menschen mit Behinderungen spezialisiert hat.

Dieser Sportverein erhielt im Jahr 2019 den mit 15.000 Euro dotierten Werner-Otto-Preis, worüber unter anderem das „Hamburger Abendblatt“ berichtete. Auf den dazugehörigen Bildern ist auch Markus Werner zu sehen. Derselbe Mann ist auch im Profil eines Twitter-Nutzers zu sehen, der sich dort „Markus Lindenberg“ nennt und seinen Nachnamen mutmaßlich durch Heirat gewechselt hat.

Warum dann aber zum Beispiel im Impressum des Blogs nach wie vor Markus Werner stand? Dafür könnte es mindestens einen guten Grund geben. Im Mai 2020 startete „Jule Stinkesocke“ via Twitter einen Spendenaufruf für ihren „Freund und Unterstützer“ Markus. Die Kosten für die Reparatur von dessen Auto seien „explodiert“. Innerhalb weniger Tage kam so viel Geld zusammen, dass sich „Markus“ ein neues Auto kaufen konnte.

Und spätestens damit, wenn nicht schon mit der Verletzung der Bildrechte des Porno-Sternchens aus Down Under, könnte diese ganze Geschichte nicht nur moralisch verwerflich sein – was sie in jedem Fall ist – sondern auch von strafrechtlicher Relevanz.

Warum „Jule Stinkesocke“ trotz aller Ungereimtheiten und Merkwürdigkeiten aber trotzdem 14 Jahre lang durchgekommen ist, liegt für „pudelskernspin“ auf der Hand: „Ganz einfach: Ein Rolli-Account ist unantastbar, wenn man nicht als ableistisch abgestempelt werden will. Das möchte man nicht riskieren.“

Nach dem, was ich erlebt habe, und meiner Operation, muss ich meine Arbeit deutlich ruhiger angehen und mich schonen. Dazu haben mich die Ärzte eindringlich aufgefordert. Und ich glaube, das bin ich meinen Nächsten, meinem Team und auch Ihnen schuldig. Wir wollen ja noch eine Weile etwas voneinander haben! Und nach drei Jahren mit Vollgas und an vorderster Front hat der Motor etwas Schonung verdient. Umso mehr bin ich Ihnen dankbar für Ihre Unterstützung! Sie ist auch moralisch sehr, sehr wichtig für mich – sie zeigt mir, ich bin nicht allein und gibt mir die Kraft, weiterzumachen! Und sie gibt mir die Sicherheit, mich auch ein wenig zurücklehnen zu können zur Genesung. Auf dass wir noch ein langes Miteinander vor uns haben! Ganz, ganz herzlichen Dank!
(Reitschuster)

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