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Templer und Turiner Grabtuch: Konstruktion und Dekonstruktion

Was hat nun das Turiner Grabtuch mit den Templern zu tun? Zunächst einmal
nichts, sieht man davon ab, dass beide Themen die Einbildungskraft beflügeln
und extrem mythenanfällig sind. Zu beiden Bereichen äußern gewerbsmäßige
Schreiber und selbsternannte Historiker in rascher Folge neue, nicht selten weitgehend erfundene Geschichten und Spekulationen. Im Brustton der Überzeugung
und in dem für unsere Zeit so typischen pseudowissenschaftlichen Stil vorgetragen, finden sie reiche Verbreitung.

Da die Templer im frühen 14. Jahrhundert auf scheinbar geheimnisvolle
Weise untergingen und die Sindone nur wenige Dezennien später auch scheinbar geheimnisvoll auftauchte, konnte es gar nicht ausbleiben, dass beide „Mysterien” miteinander verbunden wurden. Dies umso weniger, als in die Zerschlagung der Templer der Papst (nach heutigem Slang „der Vatikan”) verwickelt war, und dieselbe Instanz auch bezüglich der Sindone di Torino früh ihre Stimme erheben musste. Da passt es selbstverständlich bestens, dass der einzige führende Templer, der mit seinem Großmeister Jacques de Molay auf dem Scheiterhaufen gestorben war, den gleichen Namen trug wie der Erstbesitzer des Grabtuchs. Auf diesen bemerkenswerten Umstand wies offenbar zuerst der englische Publizist !an Wilson hin, der in den letzten Jahrzehnten eine Reihe gut recherchierter Bücher und viele Aufsätze zum Turiner Grabtuch veröffentlicht hat. Er formulierte erstmals auch die Hypothese einer verwandtschaftlichen Beziehung zwischen den beiden
homonymen Männern. Ferner behauptete er die Identität des von den Templern
angeblich verehrten Idols („Baphomet”) mit dem Turiner Grabtuch. Dieses habe
sich bis 1204 in Konstantinopel befunden, sei dort von dem pikardischen Ritter
Robert de Clari in der Blachernenkirche gesehen worden und während der Erstürmung verschwunden. 11 Nach dem 4. Kreuzzug hätten es die Templer lange im
Geheimen verehrt und bei den Aufnahmezeremonien verwendet. Bei Aufuebung
des Ordens sei es abermals verborgen worden und in der burgundischen Familie
Charny weitergereicht worden, in der es schließlich nach etwa 40 Jahren wieder
auftauchte.

Wilsons Argumentation wurde von Malcolm Barber sehr schnell überprüft und
in keinem Detail für tragfähig befunden, die Gesamtthese ihrer Struktur nach in
Templerphantasien des 18. und frühen 19. Jahrhunderts verortet. Barbers Aufsatz
wurde mehrfach und sogar in einer prominenten sindonophilen Zeitschrift nachgedruckt, eine Kurzfassung erschien in den zahlreichen Auflagen seines Buches „Tue New Knighthood”. Auch andere prominente Templerforscher14 und Grabtuchspezialisten äußerten sich über diese „suggestiva teoria” (Tommasi) skeptisch bis ablehnend. Da aber die Falsifizierung der Hypothese unmöglich war, behauptet sie sich bis heute. Wilson selbst hat sie 2010 leicht abgewandelt erneut vorgetragen, 16 und selbst Sindonophobe halten die „pista templare” für die wahrscheinlichste. Generell wird jetzt nicht ausgeschlossen, das Grabtuch könne nach 1204 nach Athen in die Hände der Familie de Ja Roche und erst später zu den Templern gelangt sein.

Allerdings sind in den letzten 35 Jahren sehr viele andere Theorien zur Überbrückung der Lücke zwischen dem angeblichen Verschwinden des Grabtuchs in
Konstantinopel 1204 und seinem Auftauchen in Frankreich kurz nach 1350 vorgestellt worden, und auf diesem „Fest der Konjekturen” ist die Templertheorie nur eine neben vielen. Sie hat freilich besonders schöne Blüten bei jenen gezeitigt, die gemäß dem Radiokarbontest von 1988 an die mittelalterliche Entstehung des Grabtuchs glauben. Da wurde „bewiesen”, dass in der Sindone nicht Jesus, sondern der gekreuzigte Jacques de Molay, der Urvater der Freimaurer, höchstpersönlich abgebildet sei; dass die Templer – wie ein deutscher Professor für Textiltechnik meinte – das Grabtuch mittels eines Metallgussverfahrens quasi in einer „Arbeitsgemeinschaft zur Herstellung eines Christus-Abbildes” produziert hätten oder dass sie – so ein englischer Anthropologe – im Grabtuch eine Urphotographie zu verwirklichen verstanden, um den von ihnen verwahrten, einbalsamierten Kopf Jesu für die Nachwelt zu erhalten. Derlei ist ganz sicher genauso wahr wie der Da Vinci-Code, aber viel schlechter geschrieben.

Angesichts des skizzierten Forschungsverlaufs könnte man die Angelegenheit
für erledigt halten, wäre die These nicht kürzlich von fachwissenschaftlicher Seite und in teilweise neuem Gewande wieder vertreten worden. Barbara Frale vom
Vatikanischen Geheimarchiv wiederholte in einem 2009 erschienenen Buch die
These Wilsons, und zwar „con tutto probabilita”.20 Immerhin ist Frau Frale nicht ohne Verdienste für die Templerforschung, und die Liste der Danksagungen in diesem Werk ist ebenso namhaft wie lang. Das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Frale zu Wilson nur wenig hinzufügt. Allerdings behauptet sie, unstrittige Hinweise auf die Identität des Templeridols mit der Sindone entdeckt zu haben. Versteht sich, dass sie damit einen Sturm entrüsteter Kritik auf sich zog, der sie selbst zum Vergleich mit einem Kreuzzug und zu dem nicht gerade freundlichen Mittel verleitete, sich unter dem Pseudonym ‘Giovanni Aquilanti’ zu verteidigen und dabei ihre Kontrahenten ad personam anzugreifen. Die Verbissenheit und Emotionalität, mit der diese Debatte im letzten Quinquennium vorwiegend in Italien von beiden Seiten geführt wurde, könnte man als Auseinandersetzung zwischen Sindonophoben und Sindonophilen bezeichnen. Sie ist leider nicht untypisch für die Beschäftigung mit der Sindone di Torino und gehört zu den wenig erfreulichen Aspekten im Umgang mit einem realexistierenden Objekt, über dessen Wesen die unumstößliche Entscheidung meist schon in den Propyläen der Vernunft fällt.

Vor allem der Patristiker Andrea Nicolotti aus Turin hat Frale mehrfach, unter
anderem gleichfalls mit einem eigenen Buch, geantwortet.21 Da es auch sonst
an Wortmeldungen nicht fehlt, möchte ich mich auf einige wichtige Aspekte
beschränken.

Leider hat es Frale ihren Kritikern relativ leicht gemacht. Eine wichtige Rolle
spielen in der aktuellen Debatte die Verhörprotokolle aus Carcassonne vom
November 1307, die auszugsweise schon von Heinrich Finke und jüngst im vollen Wortlaut von Nicolotti ediert worden sind.23 Besondere Bedeutung hat für
Frale das Verhör des Bruders Arnaud Sabatier,24 der 1287 in Masdeu im Roussillon in den Orden aufgenommen worden war. Dabei hatte man ihm u. a. ein Kruzifix präsentiert et quoddam lineum habentem ymaginem hominis quod adoravit
ter pedes obsculando. Nach Frale sei dem Arnaud „Ja figura intera del corpo di
un uomo su un telo di lino” gezeigt und ihm befohlen worden, „di adorarlo tre
volte baciandogli i piedi.”25 Der Text ist paläographisch eindeutig und enthält
mithin einen Grammatikfehler (entweder ist quendam oder habens zu lesen). In
jedem Fall hat Arnaud „ein Leinen, das ein Bild eines Mannes enthielt” verehrt.
Von „der ganzen Körpergestalt” („Ja figura intern del corpo”) aber ist keine Rede. Stünde da wenigstens faciem statt imaginem, könnte man noch diskutieren, weil facies schon nach antiker Auffassung für universus visus verwendet werden
konnte.26 Im Übrigen darfman aus der Tatsache, dass Arnaud das Idol dreimal mit
einem Fußkuss anbeten musste, keineswegs die Existenz eines Ganzkörperbildes ableiten. Denn es handelte sich bei dem dreifachen Fußkuss lediglich
um “die letzte Intensivierung” des rituellen Fußfalls, wie er auch im Mittelalter üblich war. Das verdeutlicht ein Blick auf weitere Protokolle aus Carcassonne. Danach hat ein anderer Templer ein Holz (lignum statt lineum!) angebetet, auf dem die Gestalt des Baphomet gemalt war, indem er ihm die Füße küsste und dabei das sarazenische Wort „Yalla” sagte: Deinde hostendit sibi quoddam lignum ubi erat depictafigura Bajfometi; et illam asoravit, obsculando sibi pedes, dicens ‘Yalla ‘, verbum Sarracenorum. 29 Ein weiteres Verhör beschreibt diesen Selbsterniedrigungsakt ausführlicher: Mehreren Brüdern, heißt es dort, sei ein mit einer Art Mantel umgebenes, goldmetallenes Idol in menschlicher Gestalt gezeigt worden; sie hätten sich dreimal davor niedergekniet, um es anzubeten (jlexis genibus coram ipso se posuerunt per tres vices), und jedes Mal sei ihnen ein Kruzifix dargereicht worden, auf das sie spuckten. 30 In Verbindung mit den anderen Texten wird klar, dass es sich bei diesem Fußkuss um die aus der antiken Proskynese hergeleitete Kniebeuge handelte, die man vor jedem, auch vor einem ‘fußlosen’ Objekt vollziehen kann, vor einem Kaiserbild, einem Heiligenbild oder einem Dreifuß. Dabei ist von der Tatsache ganz abgesehen, dass man dem Grabtuchbild auf der Vorderseite die Füße gar nicht wirklich küssen kann, weil sie nicht vorhanden sind.

Noch merkwürdiger ist Frales Umgang mit der Aussage des Guillaume Bos,
der 1297 in Perouse bei Narbonne in den Tempel aufgenommen worden war. 31
Ihm wurde ein kleines Kreuz gezeigt, auf das er dreimal spuckte und so das signum crucis verleugnete. Sogleich wurde ihm ein weiteres Bild (signum) präsentiert; wen dieses signum aber darstellte, habe er nicht genau erkennen können, weil er zu schockiert gewesen sei von dem, was von ihm zu tun verlangt wurde. Er glaubte freilich, jenes von ihm angebetete signum sei weiß und schwarz gewesen. Im Grunde ist auch das eine wenig überraschende Aussage. Allerdings liest Frale das (von mir bislang übergangene) Adjektiv nach signum alsfustanium, und macht daraus phantasievoll „eine Art Zeichnung in einem Baumwolltuch” („una specie di disegno su un panno di tela di cotone”). Nach dem Protokolltext lag Guillaumes Unfähigkeit, das Wesen der Figur gut zu erkennen (bene perpendere cuius figure erat dictum signum), daran, dass er über das, was man bisher von ihm zu tun verlangt hatte, sehr entsetzt war (quod adeo erat stupefactus de hiis que faciebant sibi fieri quod vix videbat). Nach Frale aber war sie dadurch bedingt, dass Guillaume „etwas wie eine einfarbige Zeichnung, ein dunkles Bild auf dem hellen Grund eines Tuches” („una specie di disegno monocromatico, un’immagine scura sul fondo chiaro di un panno”) gesehen habe. Man mag noch hinnehmen, dass nach Frale der aufgeregte Mann Leinen für Baumwolle gehalten hat; problematischer ist schon, dass er das signum als album et nigrum beschrieben hat. Die Sindone kann das schon deshalb nicht gewesen sein, weil diese erst auf Schwarz-Weiß-Fotografien seit 1898 so erscheint. ferner steht in der Handschrift umstrittig fusteu mit einer Schlusskürzung, die der von signu(m) unmittelbar davor entspricht. Ein signum fusteum aber ist nichts als ein signum ligneum, und ein hölzernes Idol haben sicher auch zwei andere in Carcassonne einvernommene Templer gesehen, der eine sogar quoddam lignum ubi erat depicta figura Baffometi. Sehr wahrscheinlich wird deshalb auch im Falle des Arnaud Sabatier der Protokollant einen Hörfehler begangen haben und statt lineum vielmehr lignum zu lesen sein. Das hat schon Finke erkannt, der auf die Aussage des Pierre de Moux in Carcassonne hinwies: fuit sibi hostensum quoddam lignum habens faciem hominis.
Die meisten anderen Argumente für Frales These stammen von Wilson und
sind derart, dass sie zwar nichts beweisen, aber auch nicht falsifizierbar sind.
Da ist etwa das in den Verhörprotokollen nur ein paarmal Baphomet genannte
Haupt oder Idol der Templer. Viele der Befragten hatten nie etwas davon gehört,
und die vorhandenen Aussagen liefern ein phantastisches Kaleidoskop ohne jede
Glaubwürdigkeit. Da hilft es auch nichts, dass das caput nach Hugues de Pairaud
habebat quatuor pedes, duos ante ex parte faciei, et duos retro. Sindonophile
sahen darin lange vor Frale „a very accurate description of the Shroud when it is hanging over a bar.” Aber das ist eine sehr oberflächliche Interpretation dessen, was da dem Großvisitator von Frankreich in den Mund gelegt wird. Denn die Sindone ist kein caput und sie zeigt zwei Köpfe und zwei Körper, wobei die Füße gar nur auf der Rückseite zu erkennen sind. Pairauds Beschreibung klingt eher nach Spott, nach einem monströsen Kopffiißler (Gryllos) bzw. einem Vierfüßler (Tetraskeles), wie es sie in der Phantasie aller Zeiten und aller Kulturen gegeben hat. Im Übrigen ist die Überlieferung zum Idol der Templer derartig polyvalent, dass sie jeglichem Zweck dienstbar gemacht werden kann (neuerdings mutierte Baphomet sogar zur Bundeslade). Denn dieses Idol hatte den Zeugenaussagen zufolge zwei oder drei Köpfe, es war schwarz, weiß, fleischfarben, rötlich oder gar farblos, es war groß oder klein, gemalt oder aus Metall, genauer aus Messing, Blei oder Gold, aus Holz, Knochen oder Fleisch; es war an den Rändern vergoldet und versilbert oder hatte keine goldene und silberne Abdeckung, war von einem Mantel umgeben oder trug ein Birett, hatte einen langen, silbernen, grauen oder schwarz-weiß melierten Bart nach Art der Templer oder auch nur eine similitudo barbe; es war sehr schrecklich oder aber schön und von weiblicher Erscheinung.

Schon Herder hat völlig zu Recht bemerkt:
So unwahrscheinlich, so widersprechend ist Alles, was aus der Geschichte
über diesen Kopf gesagt wird; und was über seine Gestalt gesagt wird, ist gar
elend. Diesem ist er ein Kopf, jenem ein Kobold, diesem ein ganzes Menschenbild, jenem ein Idol, worauf ein Kopf gemahlt war; einem war’s mit
Haaren und Menschenhaut überzogen, dem andern versilbert, dem dritten
ein Kopf mit vier Füßen …. da paßt alles zusammen, Kopf und Katze, vier
Füße und haarige Haut. Jeder sagte, was er etwa von solchen Köpfen und
Unholden gehört hatte und jetzt – aussagen sollte.
Für die Sindone di Torino ist dies alles belanglos, nicht weniger als das vieltraktierte Bild aus Templecombe, einer Templerkomturei in Somerset, welches
laut Wilson und Frale das von den Templern verehrte Idol darstellen soll. Es
wäre nur dann relevant, wenn bewiesen wäre, dass es wirklich Christus, und
nicht einen anderen, etwa Johannes den Täufer, zeigt. Aber selbst wenn es Christus meinen sollte: das Veronicabild fand, ohne direkten Bezug zur Sindone, seit
ca. 1200 auch im Westen zunehmend Verbreitung. Im Übrigen finden sich
die Häupter Christi und des Johannes auf Siegeln von Templern und Johannitern. Dabei erfreute sich der Christuskopf besonderer Beliebtheit bei deutschen
Templer-Präzeptoren des späten 13. Jahrhunderts, das Johanneshaupt bei den
Großprioren des Johanniterordens von England seit dem 12. Jahrhundert. Kurioserweise ähnelt ein stark plastischer Johanneskopf aus der Zeit um 120044 dem Mann auf dem Grabtuch wesentlich stärker als der nimbierte, kurz- und kraushaarige Christus mit Dornenkrone auf den deutschen Präzeptorensiegeln. Auch der Zusammenhang des Bildes mit der Templerkomturei steht gar nicht fest. Vom Fundort abgesehen ist die Datierung des Malgrunds von Templecombe mittels
Radiokarbonuntersuchung zwischen 1280 und 1440 zu weit, um einen Zusammenhang mit der Johanniterkomturei auszuschließen.

Unabhängig davon ist die Idee, das Templeridol, wenn es ein solches je gegeben hat, könne ein Christusbild gewesen sein, ziemlich abwegig angesichts der
Tatsache, dass nach den Verhörprotokollen mit der Verehrung des Idols nicht
selten eine Schmähung des Kruzifixes verbunden gewesen sein soll. Die Templer
hätten demnach das Bild des am Kreuz hängenden Christus dreimal bespuckt und
gleichzeitig das Bild des vom Kreuz abgenommenen Christus kultisch verehrt.
Zum Beweis des Ketzertums hätte der erste blasphemische Akt, der im Übrigen
auch unwahrscheinlich ist, vollauf genügt.

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