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Was für verlängerte Atomkraft spricht – und was dagegen

Können uns die Atomkraftwerke über den Winter retten? Darüber wird hitzig debattiert. Wir schauen auf die Fakten: Was würde das wirklich bringen?

Darum geht’s:
Intensive Debatte über Atomkraftwerke
Das Aus für die Atomkraft ist seit mehr als zehn Jahren eigentlich beschlossene Sache. Zum 31. Dezember sollen auch die letzten drei Atomkraftwerke vom Netz gehen. Das war zumindest der Plan.
Jetzt ist Gas knapp und zum Jahresende wird es noch enger, wenn erstmal die Heizperiode beginnt. Der Worst Case: Betrieben droht der Produktionsstopp, Mieter:innen im schlimmsten Fall ein kalter Winter.

Ist es angesichts solch einer Situation wirklich sinnvoll, die letzten drei Atomkraftwerke wie geplant vom Netz zu nehmen? Es erscheint pragmatisch, mit den verbliebenen Meilern die Energieversorgung sicherstellen zu wollen – wie es von einigen Seiten aktuell gefordert wird.

Auch die Alternative ist umstritten
Irgendwie muss schließlich Gas eingespart werden. Mit Atomkraft lässt sich zwar nicht heizen und auch kein Gas direkt ersetzen, aber sie liefert Strom.

Ließe man die Atomkraftwerke länger am Netz, würde deren Anteil nicht ebenfalls wegfallen, sondern sie könnten etwas vom Gas-Strom kompensieren – immerhin 13 Prozent der deutschen Stromerzeugung.

Die Alternative: Alte, CO2-intensive Kohlekraftwerke wieder hochfahren. Wäre AKW-Strom dann sogar das kleinere Übel?
Über diese Frage wird politisch erbittert gestritten. Aber was gibt es wirklich an stichhaltigen Argumenten? Wir schauen auf die Fakten: Was würde eine verlängerte Laufzeit der drei AKW für uns bedeuten, für die Energieversorgung, die Sicherheit – und die Umwelt?

Unser Science-Cops-Podcast dazu: Atomkraft laufen lassen oder nicht? Der Fall Habeck

Darum müssen wir drüber sprechen:
Die Debatte umfasst viele Aspekte
Es gibt, mal unabhängig von politischen, gesellschaftlichen und rechtlichen Diskussionen, im Wesentlichen drei Optionen für die Energieversorgung, solange das Gas knapp ist.
Die Atomkraftwerke kurzfristig weiterlaufen lassen, bis zum Ende des sogenannten Streckbetriebes.
Die Atomkraftwerke längerfristig und mit neuen Brennstäben über weitere Jahre laufen lassen.
Die Atomkraftwerke wie geplant abschalten und fehlenden Strom aus Gaskraftwerken teilweise über reaktivierte Kohlekraftwerke unterstützen.
Nun gibt es für alle drei Optionen gute Argumente – und einige, die zwar gewichtig klingen, am Ende aber praktisch keine Rolle spielen. Deshalb nehmen wir uns die größten Streitpunkte in dieser Debatte vor:

Das Potenzial: Welchen Effekt hätten verlängerte Laufzeiten auf die Energieversorgung in Deutschland?
Die Sicherheit: Können die Atomkraftwerke überhaupt länger betrieben werden?
Die Umwelt: Was passiert, wenn Kohlekraftwerke den Strom ersetzen müssen?
1. Das Potenzial
Die Diskussion wurde vor allem deshalb wieder angestoßen, weil die Energieversorgung vor einem Problem steht. Ohne Gas, ohne Atomkraft reden manche bereits den winterlichen Blackout herbei. Allzu drastisch kommt es vermutlich nicht – ob wir im Winter wirklich Probleme mit der Stromversorgung bekommen könnten, prüft die Regierung gerade in einem zweiten Stresstest.

Trotzdem würden so im schlimmsten Fall fast ein Fünftel der deutschen Stromerzeugung fehlen, die sich eben aus
13 Prozent Gasverstromung und
6 Prozent aus den verbliebenen drei Atomkraftwerken zusammensetzen.
Rein rechnerisch könnten die AKW also fast die Hälfte des Gasstroms ersetzen. Das wird mitunter auch so kommuniziert, ist aber zu oberflächlich gedacht.

Denn der tatsächliche Effekt versteckt sich im Detail. Dazu zählt etwa, dass die beiden Kraftwerke Emsland und Neckarwestheim im Gegensatz zum bayerischen Isar 2 nur noch über alte Brennelemente verfügen.

Technisch steht man dann vor folgendem Problem: Wenn die Brennstäbe nach jahrelanger Arbeit ihr natürliches Zyklusende erreichen, sinkt die Leistung und der Reaktor schaltet sich quasi von selbst ab, weil die Neutronen für die Kernspaltung fehlen.

Die Leistung der Reaktoren sinkt
Trotzdem kann man die Atomkraftwerke länger für die Stromproduktion betreiben. Man muss lediglich die Neutronenbilanz verbessern, beispielsweise über die Temperatur des Kühlmittels. Das erfolgt im sogenannten Streckbetrieb. Aber die volle Leistung gibt’s dann nicht mehr.

Die Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) spricht davon, dass der Streckbetrieb über mehr als 80 Tage möglich wäre. Währenddessen sinkt die Leistung auf 60 Prozent ab.

Strom nur zu anderem Zeitpunkt
Konkret bedeutet das: Wer länger vom Atomstrom profitieren will, müsste die Leistung schon jetzt merklich reduzieren, um die Brennelemente quasi zu schonen und sie länger betreiben zu können. Unterm Strich kriegen wir über die Kraftwerke dann also nicht mehr Strom, sondern nur zu einem anderen Zeitpunkt. Das könnte aber je nach Versorgungssituation im Winter eben trotzdem wichtig und nützlich sein.

Heißt also: Ja, die Kernkraftwerke können weiterhin Strom produzieren, wenn auch nicht so viel wie derzeit.

Gas- und Atomkraftwerke übernehmen unterschiedliche Rollen
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Rolle, die Atomkraftwerke und Gaskraftwerke in der Energieversorgung spielen. Kernkraftwerke liefern eine konstante Leistung und das wird auch so eingeplant. Sie zählen damit zur sogenannten Grundlast.

Bei Gaskraftwerken hingegen gibt es zwei unterschiedliche Typen:
gekoppelt (Kraft-Wärme-Kopplung)
ungekoppelt
Gekoppelte Gaskraftwerke zählen, wie die Kernkraftwerke auch, zur Grundlast. Sie produzieren allerdings zeitgleich Strom und Wärme. Zwar ließe sich die Stromproduktion etwas verringern, aber nicht vollständig. Wer die Stromproduktion dieser Kraftwerke abschaltet, dreht auch die Heizwärme für sehr viele Wohnungen ab. Die Kernkraftwerke können diesen Kraftwerkstyp also nicht 1:1 ersetzen.

Ungekoppelte Gaskraftwerke dienen zwar ausschließlich zur Stromproduktion. Doch auch sie erfüllen eine andere Rolle als AKWs. Sie agieren weitaus flexibler. Binnen einer Minute können sie die Leistung um 20 Prozent hochfahren – wenn also zum Beispiel abends plötzlich viel mehr Strom im Netz gebraucht wird.

Sie zählen damit zur sogenannten Spitzenlast. Diese Funktion können die Kernkraftwerke nicht erfüllen, weil sie nicht einfach hoch- und runtergefahren werden können.

Heißt also: Die Kernkraftwerke können die Strom- und vor allem die Wärmeproduktion der Gaskraftwerke nicht adäquat ersetzen, sie sind vielmehr eine separate Stütze der Stromversorgung. Für einen eingeschränkten Zeitraum.

Laufzeit verlängern – bis 2023 oder darüber hinaus?
Im Streckbetrieb würden die Kernkraftwerke Emsland und Neckarwestheim II bis ins Frühjahr 2023 laufen. Und dann? Wenn die Gaskrise dann noch nicht vorbei ist, beginnt spätestens dann die Diskussion von Neuem. Schließlich wird teils vor Versorgungsproblemen für mehrere Jahre gewarnt.

Die Kernkraft-Befürworter:innen haben auch dafür eine Lösung: Denn mit neuen Brennelementen würden die AKW vermutlich wieder bis zu vier Jahre Strom liefern, eben bis sie „abgebrannt“ sind. Der Zeitpunkt, um solche Brennelemente zu bestellen, ist aber bereits reichlich spät. Sie werden für die Anlagen eigens angefertigt und es ist von einem Vorlauf von grob 12 bis 18 Monaten auszugehen.

Aber selbst wenn alles unternommen würde, um das möglich zu machen: Käme das schon der Wiederbelebung der totgeglaubten Atomkraft in Deutschland gleich?

2. Die Sicherheit
Ein wichtiger Streitpunkt in der Atomkraftdebatte ist auch die Reaktorsicherheit. Wegen des geplanten Ausstiegs wurden einige Routineprüfungen zuletzt 2009 durchgeführt und nicht wiederholt. Was dramatisch klingt, ist aber vor allem Schreibtischarbeit.

Die Sicherheit der Anlagen wird als gut eingeschätzt
Die allgemeine Sicherheit der Anlagen ist dadurch nicht kritisch und sollte mindestens für den kurzfristigen Weiterbetrieb ausreichen. Für weitere Jahre müssten umfangreiche Prüfungen nachgeholt werden. Damit wäre es theoretisch möglich, die Reaktoren bis zum Ende einer erwartbaren Lebensdauer von 40 Jahren weiter zu betreiben.

Ob das alles auch praktikabel ist, hängt von der Gesetzgebung, Protesten und dem Willen der Betreiber ab, die sich derzeit in der Diskussion meist zurückhalten. Der Ausstieg vom Ausstieg ist nicht nur kompliziert, sondern auch wirtschaftlich fragwürdig. Ein Betrieb auf weitere Jahre wäre vor durch politischen Willen finanziert, gegen einen wohl ungeheuer großen Protest in der Bevölkerung.

Immer wieder wird in der Diskussion auch auf Katastrophen wie in Fukushima oder Tschernobyl verwiesen. Selbstverständlich sind GAUs relevante Punkte in einer Debatte über Atomkraft, aber solange es hier um eine kurzzeitig verlängerte Laufzeit geht und nicht um die Renaissance der Atomkraft, bleibt das Risiko weiterhin sehr, sehr gering.

Ähnliches gilt auch für den Endlagerstreit. Fakt ist: Wir haben noch kein funktionierendes Endlager. Im Streckbetrieb kämen aber keine Brennstäbe dazu, und selbst im Falle einer mehrjährigen Verlängerung würden die zusätzlichen Brennstäbe das Problem praktisch kaum verschärfen – angesichts der Mengen, über die wir bei der Entsorgung und Endlagerung ohnehin sprechen.

3. Die Umwelt
Die Alternative ist allerdings auch nicht sonderlich beliebt. Als Lösung kämen schließlich Kohlekraftwerke infrage, darunter auch altgediente, die ebenfalls vom Netz gehen sollten. Bislang ist mit dem Steinkohlekraftwerk Mehrum eines bereits aus der Reserve wieder in den Dienst gestellt worden.

Die Kohlekraftwerke können grundsätzlich flexibler eingesetzt werden – solange für sie auch ausreichend Brennstoff in Form von Kohle da ist. Das mitunter größte Gegenargument ist vielmehr ihre verheerende Klimabilanz.

Die Alternative aus Kohle ist deutlich umweltschädlicher
Die CO2-Bilanz der Atomkraft ist weitaus besser als die der Stein- oder Braunkohle. Im IPCC-Bericht von 2014 liegt die Bilanz im Schnitt bei 12 Gramm CO2-Äquivalenten pro erzeugter Kilowattstunde. Die Spanne der Anlagen ist jedoch groß und reicht von 3,7 bis 110 Gramm CO2 beziehungsweise CO2-Äquivalenten pro Kilowattstunde.

Die deutsche Kernkraft schneidet mit 8,9 Gramm CO2e im internationalen Vergleich laut Untersuchung des Öko-Instituts besonders gut ab.

Gerade alte, reaktivierte Steinkohlekraftwerke erzeugen sehr viele Treibhausgase – laut IPCC beinah 70-mal mehr pro erzeugter Kilowattstunde Strom.

Und jetzt?
Atomkraftwerke sind vermutlich nur eine kurzfristige Hilfe
Eine kurzfristige Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke wäre recht einfach möglich und könnte die Energieversorgung im kommenden Winter etwas entspannen – wenn auch weit weniger stark als oftmals behauptet.
Als längerfristiger Ersatz oder Ausgleich stehen der Kernkraft jedoch große, praktische und bürokratische Hürden im Weg. Wirkliche volle Leistung der letzten drei Atomkraftwerke gäbe es nur bei neuen Brennstäben und frühestens ab Mitte 2023.

Hinzu kämen rechtliche Hürden, unklare Haftungsrisiken und die Rückabwicklung des schon langen geplanten Ausstiegs mitsamt knappem Personal und notwendigen Prüfungen.

Stromversorgung 2023: Zwischen Pragmatismus und Prioritäten
Den Strom über Kohlekraftwerke zu ersetzen scheint praktikabler zu sein als eine echte Laufzeitverlängerung. Das notwendige Übel wäre, damit die ohnehin schon schlechte Klimabilanz zu torpedieren.

Der Beitrag zur Energiesicherheit, ihre Flexibilität und die mögliche Leistung, die die Kohlekraftwerke liefern könnten, sind höher – was dazu führen könnte, dass sie in der politischen Abwägung Vorrang genießen könnten. Rechtlich müssten für beide Situationen Änderungen vorgenommen werden.

Ein durchaus realistisches Szenario könnte also sein: Die Atomkraftwerke liefern im Streckbetrieb den Winter über weiter Strom für die Grundlast, danach werden keine neuen Brennstäbe gekauft – sollte dann noch Bedarf herrschen, würde er vermutlich über Kohlekraftwerke gedeckt. Letztlich wird sich das vor allem nach dem zweiten Stresstest entscheiden.

Die Debatte darf nicht von langfristigen Lösungen ablenken
Trotz allem sollte die Diskussion um Atom- und Kohlestrom nicht davon ablenken, dass beide Technologien in den nächsten Jahrzehnten eine immer kleinere Rolle im deutschen Energiemix spielen werden. Sie sind höchstens Brücken, um uns durch die Gaskrise zu helfen, aber keine Lösung für die Energieversorgung der Zukunft.

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