Kapitel- Eröffnungsrede des he. Grossmeisters nnd1

KAPITEL- ERÖFFNUNGSREDE DES HE. GROSSMEISTERS

Fein und lieblich” bezeichnet ein hebräischer Psalmensänger die Situation, „wenn Brüder einträchtig bei einander wohnen”. Desungeachtet ist mit dem Wort „Bruder” seit je etwas Revolutionäres, Rivalität und Protest verbunden. Die erste Bruderschaft, von der die Bibel spricht, endet mit einem Brudermord.

Seit Kain und Abel ist das Zusammenleben der „Brüder” nicht nur “„fein und lieblich”.

Als die Christen anfingen, sich mit dem biologischen Verwandtschaftsnamen „Bruder” zu nennen, brach ein neues Zeitalter an. Nicht nur, dass die Wertordnung menschlicher Partnerschaften durcheinander geriet es gab nun einen „Weg”, an dessen Endpunkt ein gemeinsames, unerhörtes Ziel gestellt war, das die Weggenossen miteinander verband.

Immer dann, wenn in den Orden Bruderschaften und geheimen Zirkeln sich „Brüder” zusammentaten, geschah es im weiteren Vollzug dieser „Umwertung aller Werte”, waren es Manifestationen der verborgenen, einmal ins Rollen gekommenen und unaufhaltsamen Weltrevolution der Menschenbrüderschaft. Als in den Jahren nach 1789 der Tumult die alte Ordnung Frankreichs beseitigte, schrie man überall „fraternite” „Brüderlichkeit”. Dies Wort hatte wenige Jahre zuvor der stille Prediger und Menschenfreund Johann Caspar Lavater erdacht: sein Leben endete durch die Kugel eines Soldaten der französischen Revolutionsarmee.

Es ist der Zug des Revolutionären, der der Brüderlichkeit von Beginn an Revolution das ist das tätige Ergriffensein von dem Neuen, der Versuch, die Sehnsucht nach dem ferneren, höheren Ziel des Menschlichen in der Kraft tiefgreifenden Umschwungs zu realisieren. Diese Revolution ist das einzige Mittel gegen Trägheit und Stumpfheit, die schlimmsten Feinde der Menschen. Wo die Stumpfheit herrscht, wird aus dem Bruder der Kollege und aus der Brüderlichkeit die Koexistenz. Woher kommt es, dass der Brudername im Mund des revolutionären Dostojewskis oft glaubwürdiger klingt als unter den Gliedern christlicher und anderer „Glaubensfamilien”?

Es kommt” in jeder Epoche darauf an, das Ziel zu erkennen, dem die Revolution in dieser Zeit speziell entgegenstrebt. Und es ist von entscheidender Bedeutung und macht die geschichtliche Physiognomie dieser Epoche aus, den ganzen Inhalt und den vollen Umkreis dieses Zieles zu erkennen. Daran wird die Existenz und das Niveau auch jener „Bruderschaften” beurteilt werden, die, religiös oder weltlich, neuerdings versuchen, die Menschen zu versöhnen und die Welt vor dem Chaos zu retten. Am ehesten verfehlt das Ziel, wer sich durch Schein oder Halbziele den Blick für die Tiefe und Weite der gegenwärtig wirkenden Weltrevolution verstellen lässt. Noch hemmen ideologische, moralische und andere sekundärmotivische Sichtverkürzungen deren volle Entfaltung. Aber unaufhaltbar bricht der Morgen der wahren Revolution; der uneingeschränkten Brüderlichkeit und des erneuerten, vollkommenen Ur und Brudermenschen an.

Liberte: Ihre umstürzende Kraft erhält die Revolution aus der Erkenntnis, dass nur der dem andern Bruder werden kann, der sich selbst in Gott so ernst und ewig nimmt wie das göttliche Du. Nicht Einschränkung des „Ich”, sondern seine Erfüllung ist das Ziel der revolutionären Geistesbewegung. „Ich weiss, dass ohne mich Gott nicht ein Nu kann leben …”, schreibt Angelus Silesius. Darin liegt das Ziel der Individuation.

Egalite: Ihre wandelnde Wirkung entwickelt die Revolution im Masse der Einsicht, dass nur der dem Bruder solidarisch wird, der auch seine Herkunft, seine (fremde) Religion, seine (vielleicht bestrittene) politische Kultur zu akzeptieren und in der Liebe besser zu verstehen bereit ist. „Neige dein Haupt, wo andere sich verneigen, Ehrfurcht bleibt nie unbelohnt”, sagt Ramakrishnan, und der Christ Matthias Claudius schreibt seinem Sohn Johannes ins Stammbuch: „Es ist leicht zu verachten, Sohn, und verstehen ist viel besser.” Wer behauptet, er liebe den Bruder, und seine Umwelt ignoriert, der ist nach biblischer Logik ein Lügner.

Fraternite: Zu ihrem alles verändernden Ziel wird die Revolution zweifellos erst dann gelangen, wenn die Verbrüderung der Kirchen, Kulturen und Staaten ihre bisherigen Grenzen überschreitet und die Versöhnung mit allen Menschen und Geschöpfen einschliesst. Wie soll die christliche Ökumene vorwärts kommen, weitet sie ihr Engagement nicht im Interesse auch der anderen Religionen aus? Wie soll das „Geeinte Europa” zustande kommen, solange die Völker Europas sich mit den Völkern der übrigen Welt nicht als Glieder einer Weltgesellschaft solidarisch fühlen.

Hiob litt, weil Gott ihn „aus der Enge in die Weite” führen wollte. Damit wird der innere Bereich der Revolution der Brüderlichkeit, der notwendige Um und Aufbruch im Menschen markiert. Und auch für die äusseren Dimensionen der kommenden Wandlung hat die Bibel ein Bild das vom heiligen Tempel: zu keiner Zeit noch stand er im Brennpunkt des „Vorhofs” der Welt wie heute. Tüt er sich nicht selber auf und gibt nicht seinen Reichtum freiwillig in die Armutshütten vor dem Tempel, so wird der Vorhof sich erheben und ihn zertrümmern. Schon proben die Betroffenen den Aufstand, schon sind die Propheten der letzten Revolution unterwegs. Und während die einen auch sie nennen sich „Brüder”! noch meinen, zerstören zu müssen, künden die andern ergriffen vom Pathos der „Profanität” (von der Liebe zu den Hütten „vor dem Tempel”) von jener Zeit, „da kein Tempel mehr sein wird, weil Gott selbst das Licht und das Feuer ist, das sie zum Leben brauchen …”