⚔️ Gedanken am 18. Oktober
Ehrlichkeit – zwischen Klarheit und Selbsttäuschung
Ehrlichkeit ist, ebenso wie Geduld und Toleranz, eine oft missverstandene Tugend. Allzu leicht wird sie mit dem unreflektierten Aussprechen von Gefühlen verwechselt. In der Pop-Kultur gilt es beinahe als Tugend, »alles rauszulassen« – als sei jede Emotion ein heiliges Gut, das ohne Rücksicht auf andere geäußert werden müsse.
Doch dies ist keine Ehrlichkeit, sondern oft eine Form der Selbstrechtfertigung, ja sogar der subtilen Gewalt. Denn wer seine negativen Gefühle ungebremst an anderen auslässt, überträgt seine eigene innere Unruhe auf sein Gegenüber.
Die Falle des „ehrlichen Gefühls“
Man stelle sich eine Szene wie aus einem Woody-Allen-Film vor: Ein Mann sieht auf der Straße eine Frau mit mürrischem Gesichtsausdruck, die ihn unbewusst an seine strenge Mutter erinnert. Ohne Filter fährt er sie an: „Stell diese idiotische Grimasse ab, du miese alte Hexe! Weißt du nicht, dass du mir den ganzen Tag versaust?“
Solch eine »ehrliche Gefühlsäußerung« ist nichts weiter als das Abwälzen der eigenen Last auf andere. Sie verletzt, statt zu heilen, und verfehlt das eigentliche Ziel der Ehrlichkeit: Klarheit, Wahrhaftigkeit und den Mut zur inneren Wahrheit.
Ehrlichkeit als spiritueller Weg
Echte Ehrlichkeit beginnt nicht mit dem Mund, sondern mit dem Herzen. Sie verlangt von uns, dass wir unsere eigenen Beweggründe prüfen, bevor wir sprechen.
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Will ich nur meinen Schmerz loswerden?
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Suche ich unbewusst Mitleid oder Bestätigung?
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Oder habe ich die Absicht, in Liebe und Wahrhaftigkeit etwas zu teilen, das dem Anderen wie mir selbst zum Wachstum dient?
Die Tugend der Ehrlichkeit bedeutet daher, Gefühle nicht zu unterdrücken, sondern sie als Lehrer zu betrachten. Jede Emotion weist uns auf innere Muster hin – auf Verletzungen, Wünsche oder ungelöste Konflikte. Werden sie jedoch unreflektiert ausgesprochen, verwandeln sie sich in Pfeile, die den anderen treffen, anstatt Licht in unsere Seele zu bringen.
Ehrlichkeit als Templerhaltung
Für den Templer ist Ehrlichkeit ein Rittergelübde des Herzens. Sie ist nicht taktlose Direktheit, sondern eine Form der Reinheit. Ehrlich zu sein bedeutet:
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die Wahrheit über sich selbst zu erkennen,
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Masken fallen zu lassen,
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und Worte so zu wählen, dass sie wahr, notwendig und heilsam sind.
So wie das Schwert des Ritters nur dann gerecht ist, wenn es im Dienst der Wahrheit geführt wird, so ist auch das Wort nur dann ehrlich, wenn es aus Klarheit und Mitgefühl entspringt.
Tägliche Templerarbeit
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Verweile für ein paar Minuten im Frieden der Shamatha-Vipassana-Meditation, des Eis aus Licht oder des Gebets der Sammlung.
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Denke über das »ehrliche Äußern von Gefühlen« nach.
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Prüfe dich selbst:
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Erwartest du, dass jemand anderes deine Gefühle »in Ordnung bringt«?
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Versuchst du, mit deiner Ehrlichkeit ein schlechtes Gewissen zu erzeugen?
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Oder teilst du in Wahrheit eine Erkenntnis, die Licht und Verständnis schenkt?
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Wenn die Äußerung von Gefühlen in der Regel verletzt, betrachte sie künftig als Lehrer statt als Richter.
Schlussgedanke
Ehrlichkeit ist kein Freibrief für schonungslose Direktheit, sondern ein Weg der Bewusstheit. Sie lehrt uns, Gefühle nicht als Waffen, sondern als Wegweiser zu sehen. Wer als Templer Ehrlichkeit übt, entdeckt darin nicht nur eine Tugend, sondern ein Schwert aus Licht – scharf in der Klarheit, sanft im Mitgefühl.
