✠✠✠✠✠✠ ASTO TEMPLER-BLOG ✠✠✠✠✠✠

Das übersehene Dorf

Jahrhundertelang führte Seborga, ein vier Quadratkilometer großer Flecken am
Mittelmeer, ein Dasein jenseits aller Verträge. Heute ist es ein selbsternanntes
Fürstentum. Wie kam es dazu?

Das Erstaunen war groß, als Nina Menegatto, eine in Kempten im Allgäu geborene Immobilien-
verwalterin, zur Fürstin von Seborga gekürt wurde. Seborga ist ein Dörfchen auf einer liguri-
schen Bergkuppe, es liegt 500 Meter über dem Mittelmeer, der Blick reicht von dort bis in das
französische Département Alpes-Maritimes. Eigentlich war die Fürstenwürde auf ihren Mann
Marcello Menegatto übergegangen, als Marcello I.; doch die beiden trennten sich, sehr bürger-
lich, und so verzichtete er am 12. April 2019 in einer Erklärung an die „gesamte Bevölkerung des Fürstentums Seborga, an die Edlen, den Kronrat und die Regierung des Fürstentums Seborga“
auf alle seine Ämter, einschließlich Kfz-Nummernschild „001SB“, Diplomatenpass und Perso-
nalausweis „Nr. 00001“. Seine Frau wurde per Akklamation der Einwohnerschaft die neue Fürs-
tin.

Der historische Hintergrund ist vertrackt. Erforscht hat ihn Fürst Giorgio I., bürgerlich Giorgio Carbone. Er kam in Seborga 1936 zur Welt und widmete sich als junger Mann dem, was der
Landstrich bietet: Ginster und Mimosen. Er züchtete die Blumen und lieferte sie über Sanremo
nach Frankreich und nach Deutschland. Daneben entfaltete er eine Neigung zu Geschichtskun-
de und Lokalpatriotismus, verbrachte viel Zeit in staatlichen und kirchlichen Archiven und re-
konstruierte in Kleinarbeit die tausendjährige Geschichte des Dorfs, ein seit dem 6. Jahrhundert nachgewiesener Flecken.

1993 erwählten die Einwohner von Seborga einen Mimosenzüchter zum Fürsten
Zunächst ein Lehen der Grafschaft Ventimiglia, wurde es 954 Teil einer Schenkung des Grafen
von Ventimiglia an die Mönche des Benediktinerklosters auf der Insel Saint-Honorat und 1079
als Fürstentum Bestandteil des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Bernhard von
Clairvaux traf sich hier im Februar 1117 mit seinen Glaubensbrüdern Gundemar und Rossal, die
im Jahr darauf mit einigen weiteren Männern von Abt Edoard zu Tempelrittern geweiht wurden.
Ihnen sind heute kniehohe Stelen am Platz um die Zisterzienserkapelle St. Bernard gewidmet.
An die Tempelritter wird der Besucher an jeder Ecke des historischen Zentrums in Form von
Wappen und Info-Tafeln erinnert. Nach dem Erwerb durch den geschickt taktierenden Savoyer-
Fürsten Vittorio Amedeo II. wurde Seborga 1729 zu einem Protektorat des Hauses Savoyen. Das
war ein Kauf, der nicht anerkannt wurde, und im Frieden zu Aachen 1748 wurde Seborga nicht
der Republik Genua zugeordnet.

Und weiter: Als sich die europäischen Großmächte 1814/15 auf dem Wiener Kongress trafen, um
die Grenzen des Kontinents festzulegen, wurde Seborga nicht erwähnt. Als die vielen kleinen
Staaten der italienischen Halbinsel 1861 zum Königreich Italien vereinigt wurden, wurde Sebor-
ga ebenfalls übersehen. 1946, nach der Abdankung des letzten Königs von Savoyen, Viktor Ema-
nuel III., wurde Italien zu einer Republik, doch von Seborga kein Wort. Dabei hatte sich der Erzbischof von Genua noch 1929 an Mussolini gewandt, im Rahmen der Lateranverträge Seborga
irgendwo zuzuordnen, doch der antwortete, dass Seborga unter den italienischen Gemeinden
nicht aufgeführt sei. Dann musste der Ort wohl ein eigenständiges Land sein, ein Staat.

War es persönliches Charisma oder eine überzeugende Geschäftsidee – 1993 erwählten die Ein-
wohner von Seborga den Mimosenzüchter zum Fürsten, Seine Hoheit Giorgio I., Principe de Se-
borga. Im Jahr darauf ließ er sogar eine alte Münze wieder prägen, den Luigino, der sich aber
nur als kurioses Sammlerstück durchsetzen konnte. Und es gab einen neuen Entwurf fürs Orts-
wappen und eine neue Flagge. Immerhin regierte er als gewählter Fürst 16 Jahre lang sein vier
Quadratkilometer großes Fürstentum.

Natürlich erkannte der Staat Italien dieses Fürstentum nicht an, die Bürger zahlen ihre Steuern
an Italien, sie werden derzeit aufgerufen zu den Europawahlen, und auch der Briefträger ist italienisch. Aber psychologisch gesehen ist es eine hervorragende Kompensation: Therapeuten gä-
ben einem solchen Patienten eine Eins. Er wurde nicht angemessen beachtet? Nun wird er be-
achtet.

Doch wie es offensichtlich sein muss, wenn an einem realen Ort, Seborga, ein virtueller Raum,
das Fürstentum, geschaffen wird, treten auch außergewöhnliche Figuren auf den Plan. So be-
richtete Franco Zotta 1999 in der Zeit von Sektenfreaks und von Personen, die sich von der Ge-
bühreneinzugsstelle von ARD und ZDF verfolgt fühlten und in der Invisible Embassy of Seborga
um Asyl gebeten hätten. Zudem von einem ostwestfälischen Künstler, der in einer virtuellen Ak-
tion Pässe und Staatsangehörigkeiten sowie Konsulatsposten für Seborga vergab, obwohl ihn
Fürst Carbone bat, das sein zu lassen. Noch besser trieb es eine Yasmine von Hohenstaufen Anjou Plantagenet, die sich als legitime Erbin des Fürstentums sah und dieses dem italienischen
Staat zum Geschenk machte – was den Fürsten zu dem Kommentar verleitete: „Wie sollten wir
eine Prinzessin anerkennen, die wir nicht kennen? Ich habe sie noch nie gesehen und nenne sie
nur die ‚Principessa Internet‘.“

Übrigens ist keiner der Berichte über Seborga von einem 1. April, merklich viele aber aus der
Sommerferien-, der Saure-Gurken-Zeit, wenn so wenig passiert, dass auch Entlegenes gemeldet
wird. Aber kein Zweifel: Seborga als selbsternanntes Fürstentum existiert, wir waren da.

Carbones Nachnachfolgerin Fürstin Nina I. ist in ihrer Auffassung reell. Als Immobilienmaklerin
sieht sie den Nutzen in der Selbstdarstellung des Örtchens als eigenständiges Fürstentum unter
dem Gesichtspunkt des Real Estate. Auf die Ende 2022 gezählten 281 Einwohner kommen un-
zählige Unterkünfte und Ferienwohnungen. Am Schild des „Außenministeriums“ bildet sich
Rost, aber die Kirche San Martino, der herausgeputzte Ortseingang mit seinen Denkmalen und
die Schildwachenhäuschen mit Kanone betonen die historische Tiefe des Dörfchens auf der
Bergkuppe. Zusammen mit dem herrlichen Ausblick sind das die notwendigen Accessoires für
schöne Fotos. Angeblich kommen pro Monat bis zu 2000 Besucher, um etwas Virtuelles real
zu sehen.

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