Die Aufbruchsstimmung der christlichen Mystik im Mittelalter
Mystische Strömungen sind in nahezu allen religiösen Traditionen zu finden. Doch erst im hohen Mittelalter nahm die christliche Mystik so richtig Fahrt auf. In dieser Zeit häuften sich die Texte, die eine mystische Gotteserkenntnis thematisierten und Wege aufzeigten, wie Menschen zur Vereinigung mit Gott, zur unio mystica, gelangen können.
Diese Wege waren eine Reaktion auf eine fundamentale Erschütterung. Für den mittelalterlichen Menschen war die umgebende Wirklichkeit wie ein Buch, in dem alles Sichtbare als Zeichen einer anderen, himmlischen Wirklichkeit galt. Durch richtiges Lesen dieses Buches konnte man erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Doch nach und nach schwand dieses mittelalterliche Kosmosdenken. Ein neues Weltverständnis setzte sich durch, das die Neuzeit prägen sollte: Die Dinge existieren um ihrer selbst willen – und nicht, um Hinweise auf das Himmlische zu geben.
Wo war nun neue Sicherheit zu finden? Wo sprach Gott, wenn die Welt aufgehört hatte zu sprechen? Diese Frage trieb die Mystikerinnen und Mystiker um. Sie wählten einen Weg, der ebenfalls typisch für die Neuzeit wurde: Das Individuum, das menschliche Subjekt, trat ins Zentrum. Das mystische Ich suchte Gott nicht mehr in der sichtbaren Außenwelt, sondern in seinem Inneren.
Dort fand es die Spuren Gottes dort, wo das Ich sich selbst entzogen war – in den Affekten, die es erlebte; in augenblickhaften Erkenntnissen, die es nicht selbst produzierte; in den Somatismen des Körpers, über die es keine Kontrolle hatte. In den Texten der mystischen Tradition trat uns kein cogito ergo sum entgegen, wie es René Descartes formuliert hatte – ein stabiles Ich, das um sich selbst und die Dinge in der Welt wusste. An seine Stelle rückte ein homo affectus est, ein von Gefühlen getroffenes, fragiles, gefährdetes Selbst, das schließlich auch in Gott keine letzte Sicherheit fand. In welchem Ich finden wir uns mehr wieder?
Die Mystikerinnen und Mystiker des Mittelalters wagten es, die innersten Tiefen der menschlichen Seele zu erforschen und Gott dort zu suchen, wo das Herz am stärksten pocht. In ihren Texten finden wir einen Aufruf zur Selbstreflexion und zur inneren Transformation, die nicht nur für ihre Zeit, sondern auch für die moderne Welt von großer Bedeutung sind. Denn auch heute, in einer Zeit des technologischen Fortschritts und der globalen Vernetzung, sehnen sich viele nach einer tiefen spirituellen Verbindung und nach einer Erkenntnis, die jenseits des Rationalen liegt. Die Mystikerinnen und Mystiker des Mittelalters können uns dabei helfen, diese Sehnsucht zu verstehen und Wege aufzuzeigen, wie wir sie erfüllen können.