Die heilige Vorhaut –
Kuriositäten und Kontroversen der christlichen Frühzeit
Ein theologischer Streitfall über Jesus, seine Beschneidung und die Frage der himmlischen Ganzheit
Ein ungewöhnliches Thema: Die Vorhaut Jesu
Dass Jesus von Nazareth Jude war, ist historisch wie religiös unbestritten. Und wie es das jüdische Gesetz vorsah, wurde er am achten Tag nach seiner Geburt beschnitten (Lukas 2,21). Dieser Akt war nicht nur ein medizinischer Eingriff, sondern ein heiliger Bund zwischen dem jüdischen Volk und Gott – tief verwurzelt in der Tora.
Was sich jedoch aus dieser Tatsache entwickelte, zeigt eindrucksvoll, wie intensiv und teilweise kurios die Theologie der Frühzeit um Details rang. Denn wenn Jesus als Sohn Gottes in den Himmel aufgefahren ist – so stellte sich bald eine ernsthafte Frage:
Was geschah mit seiner Vorhaut?
War sie – als ein einst zu seinem göttlich-menschlichen Körper gehörendes Teil – ebenfalls in den Himmel aufgenommen worden?
Der Streit um die „Sanctum Praeputium“
Schon im frühen Mittelalter kam diese Frage unter Theologen und Mystikern auf. Man nannte die Vorhaut Jesu das Sanctum Praeputium, also die „heilige Vorhaut“. In einer Zeit, in der der Körper Jesu auch nach seiner Auferstehung als verherrlichter Leib verstanden wurde, entstand ein bemerkenswerter Streit:
Ist Jesus im Himmel vollständig, obwohl er als Säugling ein Stück seines Körpers verloren hat?
Einige Theologen argumentierten:
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Da Jesus vollkommen Mensch und vollkommen Gott ist, müsse er auch im Himmel vollständig sein – also inklusive Vorhaut.
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Andere hielten dagegen: Die Beschneidung war ein heiliger Akt im Rahmen des göttlichen Bundes. Die Vorhaut war freiwillig geopfert – sie war also nicht minder heilig, aber nicht mehr Teil seines verklärten Leibes.
Relikte und Reliquien: Die heilige Vorhaut in Europa
Ab dem Hochmittelalter kursierten dann mehrere Reliquien, die angeblich die Vorhaut Christi darstellten. Insgesamt sind bis zu 18 verschiedene Kirchen bekannt, die im Besitz einer solchen Reliquie gewesen sein wollen – von Chartres über Antwerpen bis hin zu Rom.
Kirchen und Orte mit angeblicher Vorhautreliquie Jesu:
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Calcata (Italien)
– Der wohl bekannteste Ort. Die Vorhaut wurde dort bis 1983 verehrt und verschwand dann spurlos. Bis dahin war sie Ziel von Wallfahrten. Im Jahr 1983 verschwand die Reliquie jedoch unter mysteriösen Umständen und wurde nie wieder gefunden. -
Charroux (Frankreich)
– Bereits im 11. Jahrhundert soll ein Mönch die Vorhaut Jesu aus Jerusalem mitgebracht haben. Sie wurde im Kloster Charroux verehrt. -
Condom (Frankreich)
– Auch hier wurde eine „heilige Vorhaut“ aufbewahrt. Die Stadt nahm ihren Namen aber bereits vorher vom lateinischen Condatum. -
Antwerpen (Belgien)
– Im Mittelalter existierte hier eine bekannte Reliquie der Vorhaut, die öffentlich zur Verehrung ausgestellt wurde. -
Santiago de Compostela (Spanien)
– Neben dem berühmten Jakobsgrab gab es dort ebenfalls Berichte über eine Jesusvorhaut-Reliquie. -
Chartres (Frankreich)
– In der berühmten Kathedrale wurde zeitweise ebenfalls eine Vorhaut Christi verehrt. -
Rom (Italien)
– In der Kirche San Giovanni in Laterano soll die Vorhaut Jesu eine Zeit lang aufbewahrt worden sein – sie galt als Geschenk Karls des Großen an den Papst. -
Hildesheim (Deutschland)
– Auch hier wurde im Mittelalter eine Vorhautreliquie verwahrt, deren Herkunft unklar war. -
Le Puy-en-Velay (Frankreich)
– Eine weitere französische Stadt, die Anspruch auf den Besitz der heiligen Vorhaut erhob. -
Fécamp (Normandie, Frankreich)
– Hier soll die Vorhaut in einem speziellen Reliquiar aus Elfenbein verwahrt worden sein.
Es ist natürlich historisch unmöglich, dass all diese Orte die authentische Vorhaut Jesu besessen haben. Doch im Mittelalter war das Bedürfnis nach physischen Beweisen für das göttliche Wirken groß. Reliquien galten nicht nur als heilig, sondern waren auch wirtschaftlich und politisch bedeutsam, da sie Pilger anzogen und das Ansehen der Kirche steigerten. Der Streit um die „wahre“ Vorhaut Christi führte daher nicht nur zu theologischen, sondern auch zu religiös-marktwirtschaftlichen Spannungen.
Mystik und Visionen: Die Vorhaut als Zeichen göttlicher Nähe?
Einige mittelalterliche Mystikerinnen, darunter die heilige Katharina von Siena, berichteten sogar von visionären Erlebnissen, in denen sie die Vorhaut Christi als symbolische Vereinigung mit seinem göttlichen Wesen erfuhren. Sie galt nicht nur als physisches Überbleibsel, sondern als Sinnbild seiner Menschwerdung.
Der Vatikan reagiert – mit Schweigen
Im 20. Jahrhundert begann die katholische Kirche, sich offiziell von diesem Thema zu distanzieren. Die Verehrung der heiligen Vorhaut wurde nicht mehr empfohlen, die Diskussionen darüber zunehmend unterbunden. 1900 erließ Papst Leo XIII. ein Verbot, öffentlich über die heilige Vorhaut zu schreiben – das Thema galt fortan als „zu anstößig“ oder „nicht heilsrelevant“.
Fazit: Zwischen Ernst und Kuriosität
Der Streit um die Vorhaut Jesu zeigt exemplarisch, wie intensiv sich die Theologie mit der Frage nach Leiblichkeit, Inkarnation und Ganzheit beschäftigte. Für heutige Leser mag diese Diskussion kurios oder gar lächerlich erscheinen, doch sie wurzelt in der Ernsthaftigkeit des Glaubens an einen wahren Gottessohn, der als Mensch lebte – mit allem, was dazu gehört.
In diesem Detail – so absurd es zunächst wirken mag – spiegelt sich der mittelalterliche Wunsch wider, auch das Kleinste im Göttlichen zu begreifen. Und letztlich bleibt diese Frage, ob skurril oder spirituell betrachtet, Ausdruck einer tiefen Wahrheit:
Jesus war Mensch. Und nichts Menschliches blieb – zumindest für die Theologie – ohne Bedeutung.