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Leben wir im Erdzeitalter des Anthropozän?

Bergbau, Artensterben, Klimawandel – der Mensch prägt die Erde so stark wie einst nur Naturgewalten. Aber ist unsere Wirkung wirklich so groß, dass wir ein neues Zeitalter der Erdgeschichte begonnen haben?

Das Anthropozän – eine neue Epoche der Erdgeschichte?
Unsere Erde hat schon einiges hinter sich. Während der rund 4,5 Milliarden Jahre, die sie existiert, hat sie sich von einem glühenden giftigen Klumpen mit flüssiger Oberfläche zu einem blauen Planeten entwickelt – mit mildem Klima und bevölkert von zahllosen Pflanzen- und Tierarten.
Triebkraft dahinter waren Naturkräfte: das Abkühlen und Erstarren der Erdkruste, der Ausbruch von Vulkanen, das Verschieben von Kontinenten und Umlaufbahnen, das Strömen der Meere, das Wehen der Winde, die Photosynthese der Vegetation. Doch seit ein paar Jahrtausenden wirkt eine neue Kraft immer intensiver auf das Bild der Erde ein. Es ist keine Naturgewalt, sondern eine Kulturgewalt: die Menschheit.

Um Rohstoffe auszugraben, Städte und Straßen zu bauen, bewegen wir Menschen heute bereits zehn Mal mehr Erdmassen als alle Flüsse, Winde und sonstigen Naturkräfte zusammen. Wir prägen Landschaften, indem wir Kanäle anlegen, mit Staudämmen künstliche Seen schaffen, Wälder für den Ackerbau roden, Naturflächen zubetonieren. Über die Hälfte der eisfreien Landfläche der Erde ist inzwischen zu Kulturlandschaften umgestaltet worden.

Wir haben ein enormes Artensterben ausgelöst
So haben wir zahllose Tiere aus ihrer Lebenswelt verdrängt und ein Artensterben enormen Ausmaßes ausgelöst. Zugleich bevölkern wir die Erde nicht nur mit immer mehr Menschen, sondern auch Milliarden von Nutztieren, die heute über 90 Prozent der gesamten Säugetier-Masse unseres Planeten ausmachen. Auch Pflanzen sind noch nie in der Geschichte der Erde so schnell und so umfassend zwischen verschiedenen Kontinenten migriert und durch Züchtung weiterentwickelt worden.

Selbst das Klima wandeln wir, indem wir in kürzester Zeit Unmengen Kohlenstoff freigesetzt haben, der Millionen von Jahre gebraucht hat, um sich in Form von Kohle, Öl und Gas in der Erde festzusetzen. Über 1,7 Billionen Tonnen CO2 haben wir so bereits in die Atmosphäre gepustet. Das treibt die Temperaturen die Höhe, lässt Gletscher schmelzen, den Meeresspiegel steigen, Küsten erodieren und Meere (die den Großteil des CO2 aufnehmen) versauern.

Anthropozän – die Zeit, die vom Menschen geprägt wird
Kurz gesagt: Wo man auch hinschaut, der Mensch hat der Erde und ihren Bewohnern unübersehbar seinen Stempel aufgedrückt. Forschende diskutieren deshalb, ob wir uns in einem neuen Zeitalter der Erdgeschichte befinden: dem Anthropozän, also der Zeit, die vom Menschen (altgriechisch „ánthropos“) geprägt wird.

Der kürzlich verstorbene Atmosphärenchemiker und Nobelpreisträger Paul Crutzen hat diese Idee vor über zwei Jahrzehnten in die Welt gesetzt. Sie erfreut sich seitdem größter Beliebtheit, auch in den Geisteswissenschaften. Das Anthropozän scheint sowohl die konstruktive als auch destruktive Megawirkung der Menschheit auf den Planeten perfekt auf den Punkt zu bringen.

Ist das Anthropozän ein Pseudo-Zeitalter?
Nun ist es aber so, dass das Ausrufen eines neuen Erdzeitalters nicht Aufgabe von Atmosphärenchemikerinnen oder gar Soziologinnen und Philosophen ist. Das ist vielmehr der Geologie vorbehalten, der Wissenschaft von der Erdkruste. Forschende dieser Disziplin haben die Geschichte der Erde anhand ihrer unterschiedlichen Gesteinsschichten in verschiedene Zeitalter eingeteilt.

In ihnen finden sich Rückstände aus der Zeit ihrer Entstehung, aus denen sich zum Beispiel darauf schließen lässt, welche Tiere und Pflanzen damals gelebt haben (Fossilien) oder wie die Atmosphäre zusammengesetzt war und wo Gletschergrenzen verliefen (geochemische Spuren). Und diese Wächter über die Erdzeitalter erkennen das Anthropozän formell nicht an.

Aus offizieller erdgeschichtlicher Sicht leben wir nicht im Anthropozän, sondern immer noch im Holozän. So wird die Epoche genannt, die vor 11.700 Jahren mit dem Ende der letzten Kaltzeit begann. Bei diesem Übergang erfuhr die Erde bereits einen enormen Wandel: Die globale Durchschnittstemperatur stieg um sechs Grad; die gewaltigen Gletscher, die Nordeuropa und Kanada bedeckten, zogen sich zurück; und der Meeresspiegel sprang über 120 Meter in die Höhe.

Nehmen wir uns zu wichtig?
Anschließend etablierte sich ein relativ stabiles mildes Klima. In eben dieser Zeit hat sich der Großteil der kulturellen Entwicklung des modernen Menschen vollzogen: von Ackerbau und Viehzucht bis zu den Megacitys der Gegenwart.

Seit der Industrialisierung haben die Menschen dagegen „nur“ 25 Zentimeter Meresspiegelanstieg, 1,1 Grad Erderwärmung und den allmählichen Rückgang der Gletscher hervorgerufen.

Da kann man fragen: Was ist das schon im Vergleich zu solch gewaltigen Umwälzungen, wie sie das Holozän mit sich gebracht hat? Nehmen wir Menschen uns zu wichtig, wenn wir uns ein eigenes Zeitalter zuschreiben? Sind wir am Ende nur eine unbedeutende Schwankung der Erdgeschichte? Oder hat die Ausrufung des Anthropozäns doch eine wissenschaftliche Berechtigung?

Darum sollten wir drüber sprechen:

Der Mensch hat sich in die Erde eingeschrieben
Ein internationales Team aus Forschenden der sogenannten „Anthropocene Working Groupe“ (AWG) hat es sich seit einigen Jahren zur Aufgabe gemacht, zu beweisen, dass die Menschheit die Erde so stark verändert hat, dass sich das auch noch viele Jahrtausende später weltweit an den Sedimenten unserer Zeit ablesen lässt.
Als repräsentative Sedimentprobe, die diesen epochalen Übergang festhalten soll, hatte die AWG zuletzt den Crawford Lake in Kanada vorgeschlagen. In diesem kleinen, aber recht tiefen See vermischt sich das Tiefenwasser nicht mit dem höher gelegenen Wasser. Alles, was im See versinkt, kann sich deshalb ungestört am Grund des Sees anreichern – in Kalzitschichten, die sich jeden Sommer aufs Neue bilden.

Und tatsächlich hat eine Probe gezeigt, dass sich die Schichten aus der Mitte des 20. Jahrhunderts von den älteren massiv unterscheiden. Am deutlichsten darin, dass sie größere Mengen an radioaktivem Plutonium enthalten. Das wurde bei (mittlerweile verbotenen) oberirdischen Atomwaffentests zwischen 1945 und 1962 freigesetzt und wird überall auf der Erde noch für Hunderttausende Jahre nachweisbar bleiben.

Was steckt hinter der „Großen Beschleunigung“?
Die AWG hat wegen dieses eindeutigen geologischen Markers die Mitte des 20. Jahrhunderts, also ca. 1950, als Beginn des Anthropozäns vorgeschlagen. Nicht nur das Plutonium wird dafür angeführt: auch Flugasche, Industriemetalle und Pollen aus dem Ackerbau verzeichnen in den Gesteinsproben aus dieser Zeit massive Anstiege.

Als Grund dafür wird die sogenannte Große Beschleunigung nach dem Zweiten Weltkrieg betrachtet: eine explosionsartige Zunahme der Weltbevölkerung, ihrer wirtschaftlichen Aktivitäten und ihres Ressourcenverbrauchs: vom Abpumpen des Grundwassers, über Flächenfrass und Massentierhaltung bis zum Ausgraben und Verbrennen fossiler Energieträger. Angetrieben wurde die Große Beschleunigung von ungeahnten technologischen Fortschritten und einem zunehmend globalisierten Handel.

Bereits 2016 haben Forschende der AWG in einer Studie zusammengefasst, welche „Signaturen“ wir dadurch langfristig in die Erde eingeschrieben haben:

Technofossilien: Der Mensch hat in den letzten Jahrzehnten neue Mineralien in einem Ausmaß erschaffen und verbreitet wie die Erde es seit 2,4 Milliarden Jahren nicht mehr erlebt hat. Aluminium, Beton, Plastik, Glas – all das sind Verbindungen, die natürlich nicht vorkommen, aber noch über lange Zeit in allen Winkeln der Erde Spuren hinterlassen werden, vor allem in Städten und auf Deponien. Dasselbe gilt für Flugasche. Das sind kleine Staubpartikel, die beim unvollständigen Verbrennen von Kohle in die Luft abgestoßen werden und sich in Sedimenten ansammeln.
Sedimentäre Prozesse: Gerodete Wälder, Bergbau, Sedimentablagerungen durch Staudämme – die Handschrift dieser menschlichen Aktivitäten ist auf lange Sicht in die Erde eingeschrieben.
Geochemische Signale: Durch den massiven Einsatz von Kunstdünger haben wir den reaktiven Stickstoff im Erdsystem verdoppelt. Ähnlich drastische Zunahmen zeigen sich bei Phosphor, Pestizid-Rückständen und Industriemetallen wie Blei, Zink, Chrom oder Kupfer. Sie bleiben Zeugen der intensiven Landwirtschaft und industriellen Produktion unserer Zeit.
Radioaktiver Fallout: Radioaktive Partikel wie Plutonium-Isotope wurden bei oberirdischen Atomwaffentests als sogenannter Fallout freigesetzt. Ihre Halbwertszeit liegt bei über 24.000 Jahren. Aber selbst wenn sie eines Tages zu Uran verfallen sind, beträgt dessen Halbwertszeit wiederum über 700 Millionen Jahre.
Kohlenstoffkonzentration: Der aktuelle Anteil von CO2 an der Erdatmosphäre ist wegen des massiven Verbrennens fossiler Kohlenstoffträger wie Kohle, Öl und Gas mit 419 ppm (Teile pro Million) so hoch wie seit Millionen von Jahren nicht mehr. Das werden auch Geologinnen und Geologen der Zukunft nachvollziehen können: Mithilfe von Eisbohrkernen, die Luft unserer Zeit einschließen.
Temperatur- und Meeresspiegelanstieg: Die Anstiegsraten des Meeresspiegels und der globalen Mitteltemperatur sind aktuell deutlich höher als während der letzten 7000 Jahre. Selbst wenn wir die Emission von Treibhausgasen reduzieren, könnte die Erde im Jahr 2070 heißer sein und das Meer höher stehen, als die Menschheit es je erlebt hat. Auch diese Prozesse hinterlassen Spuren, zum Beispiel durch das Erodieren von Küsten.
Artensterben: Konservative Schätzungen gehen davon aus, dass die Aussterberate von Säugetierarten in den letzten 120 Jahren etwa 27 Mal höher lag als es ohne menschlichen Einfluss der Fall gewesen wäre – bei Amphibien sogar 50 Mal höher. Viele Forschende sind der Meinung, dass wir uns auf dem Weg in ein sechstes Massenaussterben befinden, wie es zuletzt vor 66 Millionen Jahren mit der Auslöschung der Dinosaurier durch einen Meteoriteneinschlag geschehen ist. Zugleich findet durch die Verbreitung einheitlicher Nutztiere und -pflanzen, aber auch durch die Eroberung einst artenreicher Biotope durch invasive Arten eine Homogenisierung der vorherrschenden Arten statt. Das alles wird sich in den Fossilien unserer Zeit deutlich widerspiegeln.
Der Geologe Colin Waters von der englischen University of Leicester – federführender Autor der AWG-Studie – sieht das Anthropozän daher als eine wissenschaftlich nachweisbar neue Epoche. Angesichts der vielen und intensiven Erdsignaturen des Menschen lasse sie sich vom Holozän eindeutig abgrenzen.

Der offizielle Eintritt in eine neue Erdepoche wäre zugleich eine deutliche Botschaft an die Menschheit: Nämlich, dass sie dabei ist, für sie erdgeschichtliches Neuland zu betreten – mit unabsehbaren Folgen für die menschliche Zivilisation, die ihre Überlebensfähigkeit bislang nur im Holozän bewiesen hat.

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