Dialogische Einheit

Wie kommen wir damit zurecht, dass es so viele verschiedene Religionen gibt? Das Christentum sei die einzig wahre Religion, so haben die meisten von uns als Kinder gelernt. Die stolze Behauptung war nicht weiter problematisch, solange rings um uns – mindestens scheinbar – nur Christen lebten. Dass weit weg irgendwelche Heidenvölker dahindämmerten, betraf uns ja nicht selbst, hat unseren Glauben nicht gestört. Mit solch geographischer Trennung der Religionen ist es jedoch vorbei. Wenn mitten in Deutschland ein Freund mich zum Freitagsgebet in seine Moschee mitnimmt und ich erlebe, wie ein riesiger Saal voller Männer donnernd auf die Knie fällt, oder wenn jemand mir in breitem Bayrisch die Weisheit des tibetischen Buddhismus preist, wo sein Herz nach langem Suchen endlich Sinn und Frieden gefunden hat: dann bringe ich im Gespräch mit diesen Menschen jenen Satz, das Christentum sei die einzig wahre Religion, nicht mehr über die Lippen. Trotzdem bin ich weiterhin gewiss, dass doch mein Glaube der wahre ist. Ähnlich ergeht es vielen.
Wie werden wir als Christen mit dieser Situation fertig?

Die Lösung, die ich Ihnen vorschlage, verdankt sich vielfachen Begegnungen. Es macht schon einen Unterschied, ob jemand z. B. auf die Frage der Wiedergeburt
im Schummerlicht esoterischer Bücher stösst oder weil er am Mittagstisch einer Hindu-Dame gegenübersitzt, die ihm ruhig und bestimmt klarmacht, dass diese Lehre zu ihrem Glauben ebenso gehört wie zu seinem Gottes Menschwerdung in Christus. So geschah es mir 1978 beim Treffen der „Weltkonferenz der Religionen für den Frieden” in Rom. Diese geistliche Bewegung gibt es seit 1968; manche Christen halten sie für das schönste Zeichen unserer Zeit. Fünf Welttreffen in allen Kontinenten haben bisher stattgefunden. Die Weltkonferenz will die verschiedenen Traditionen ausdrücklich nicht vermischen, beileibe keine umgreifende Superkirche
sein oder werden. Ein ehrfurchtsloser „Synkretismus”, der eines dieser beiden üblen Ziele ansteuern wollte, wird von den Verantwortlichen in allen Religionen verabscheut. Deren Gegensätze bilden einen Reichtum der Menschheit. Freilich sollen sie sich immer weniger in Widerspruch, Hader, Krieg auswirken.
Solchen Friedensprozess zu befördern ist das Ziel der Weltkonferenz.

Wie lässt das rechte Verhältnis der Religionen zueinander sich verstehen? Nun, jeder von Ihnen kennt aus unmittelbarer Erfahrung eine Wirklichkeit, die aus lauter
Gegensätzen besteht und doch harmonisch eins ist. Die Lebenswahrheit meines rechten Fusses (harter kühler Boden) ist verschieden von der meines linken Ohrs
(Verkehrsgeräusche, Vogelgezwitscher) und dem Himmelsblau, als das meine Augen ihre Wahrheit erblicken, während die Kopfhaut linde Sonnenwärme verspürt. Zu Wort gebracht, verschärfen manche dieser Gegensätze sich zu Widersprüchen: scheinbar kann nicht kühl und warm zugleich die Wahrheit sein. Das Leben ist jedoch grösser als die Logik eines beschränkten Sinn-Organs, das sich selbst für das Ganze hält.
Dies also ist der Leib des Menschen: ein lebendiges Ganzes aus gegensätzlichen Organen, eben diese Gegensätze sind nötig für die Harmonie des Ganzen. Jedes
Organ darf gerade nicht wie die anderen werden wollen, sondern muss seine Aufgabe erfüllen, nur dann bin ich gesund.

Dürfen wir diese Gegensatz-Einheit unserer Organe als Gleichnis der von Gott gewollten Vielfalt der Religionen auffassen? Ich glaube: ja. Deshalb greife ich die Idee auf, die der grosse russische Denker Wladimir Solowjew in einem Brief vom 27. November 1892 so ausgedrückt hat: „Die Religion des Heiligen Geistes, zu der ich mich bekenne, ist weiter und gleichzeitig inhaltsreicher als alle Einzelreligionen: sie ist weder ihre Summe noch der Extrakt aus ihnen, so wie der ganze Mensch weder
die Summe noch der Extrakt seiner einzelnen Organe ist.” Ja: Der Mensch als lebendige Viel-Einheit sei die ökumenische Leitidee.

Im strengen Sinn beweisen lässt solch eine neue Idee sich nicht; nur wer ihr bereits zuneigt, wird die folgenden beiden Begründungen überzeugend finden. Erstens
ist der Mensch zum Bilde Gottes geschaffen. SINN des Ganzen ist kein anderer als Gott selbst, also scheint der leibseelische Mensch in der Vielfalt seiner Organe das
Gleichnis für den SINN des Ganzen zu sein. Auch er vereint bleibende Gegensätze zu einer Harmonie, die freilich kein Verstand begreifen, allein der Glaube ahnen kann. Zweitens sind wir Christi Leib. Diese versöhnende Botschaft ruft Paulus den rivalisierenden Gruppen der Gemeinde von Korinth zu, damit sie über ihrem
Streiten nicht die tiefe Einheit vergessen. |Es empfiehlt sich, den ganzen Abschnitt (1. Kor. 12, 12-27) vorzulesen.] Dieses biblische Anti-Spaltungs-Prinzip dürfen wir erweitern und deshalb den zerstrittenen Religionen und Ideologien zurufen: Ihr sollt miteinander der Leib des SINNes sein, gegensätzlich und zugleich eins! Ja, die Glaubensweisen sind als Organe eines viel fältigen Wahrheitsleibes zu verstehen. Jeder Glaube meint das Ganze, betont und verdeutlicht aber je ein besonderes Sinn-Moment. Auch bei unserem Leib sind die Organe ja nicht voneinander getrennt, jedes ist auch seine Beziehungen zu den übrigen, scheint zwar nur ein Teilt, lebt in Wahrheit jedoch als eine Seinsweise des Ganzen. – Soviel zur Grundvorstellung.

Jetzt will ich Ihnen andeuten, welche Wahrheitsglieder miteinander diesen menschheitlichen Sinnleib bilden. Eine kurze Rede kann freilich kaum mehr erreichen, als dass Sie solchen Frieden ahnen; das ist aber schon besser, als wenn wir den Krieg für den Normalzustand hielten.

Christen glauben an die Dreieinigkeit. Sehen wir nun einmal davon ab, was wir alles von den göttlichen Personen zu wissen vermeinen. Gott, der SINN des Ganzen,
ist dreifach in sich selbst gespannt, stellen wir uns diese Spannung als die von drei Dimensionen vor, z. B . so: Durch die linke Eingangstür betrete ich die Kathedrale
in Form eines gewaltigen, vielfach durchbrochenen Würfels aus Glas. Dreifach kann ich blicken: entweder nach oben, zum DU Gottes des Vaters. Oder in die Tiefe, nach hinten, wo das unendliche EINS mich bergen will, Sie, die Liebe des Heiligen Geistes. Oder nach rechts, vorwärts, wo ich mich selbst verwirklichen will, in Teilhabe am ewig freien I C H des göttlichen Kindes. Entlang jeder dieser drei Linien kann mein Geist sich bewegen, und zwar jeweils in eine von zwei Richtungen gewandt: entweder ich kehre mich zum Vielen hin, zur bunten Fülle des Geschaffenen, in welchem der göttliche Sinn sich gestalten will; nennen wir diese Weise „kosmisch”. Oder ich wende mich, umgekehrt, zum Einfachen, Ununterschiedenen, unsagbar Reinen des Eigentlichen selber; das ist die „mystische”
Richtung.

Was wir üblicherweise „Religion” heissen, vollzieht sich entlang der DU-Dimension. Das ist die Wahrheit des Judentums, des Islam und aller anderen Formen, den einzigen Gott anzubeten, z.B. auch der christlichen Frömmigkeit. Die kosmisch Frommen verstehen ihren Gott als den Schöpfer und Herrn der Geschichte; Er erwählt Völker und Einzelne, Sein Wille erwartet Bestimmtes von uns. Dem frommen Mystiker dagegen versinkt das Bestimmte mehr und mehr im Abgrund des Einzigen, was gilt: der unendlichen Liebe seines Herrn. – Entlang der EINS-Dimension vollzieht sich die Geborgenheit im All-Einen, ihre kosmische Weise ist das rauschhafte Grundgefühl, das viele Künstler belebt und in südlichen Festen schwingt; in unseren Breiten erlebt man es zuweilen beim Faschingstanz . . . Die mystische Eins-Weise hingegen ist nüchtern, auf sie richtet sich die Aufmerksamkeit des Zen-Jüngers und anderer strenger Buddhisten. Wer von ihr gekostet hat, sucht
zwischen esoterischem Gebabbel und anti-esoterischer Kritik ruhig seinen Weg der Meditation. – Die kosmische Weise der ICH-Dimension begegnet uns als die Einstellung solcher Humanisten, ja Atheisten, die es mit sich und anderen gut meinen, denken wir an „gläubig Ungläubige” wie Feuerbach oder Camus. Ihre Betonung des menschlichen Ich verteidigt auch eine göttliche Wahrheit! Als der jüngere der verlorenen Söhne fortging, war nur seine Leugnung des Du falsch, nicht sein Ja zum Ich; eben deshalb geriet sein Bruder dann gleichfalls in die Krise, weil er umgekehrt genauso einseitig war. Die mystische Weise der ICH-Dimension schliesslich ist die tiefe Offenbarung Indiens: alle Lebewesen sind verschiedene Rollen, Gestaltungen, Seinsweisen desselben innersten SELBST.

Welches ist, schliesslich, die besondere Wahrheit des Christentums? Keine andere als Jesus Christus selbst, d.h. die Menschlichkeit des absoluten Sinnes in allen
drei Dimensionen. Christus hat zu Gott gebetet, auf radikal unentfremdete Weise „ich” gesagt und „im Heiligen Geist gejubelt” (Lk. 10, 21). Der ewig gültige SINN des Ganzen ist einer von uns geworden; ein Mensch aus Fleisch und Blut hat in die Geschichte der Zweifel das endgültige Ja Gottes gebracht. Kein Wunder, dass in der christlichen Kirche stets Bekenner von Du-, Ich- und Eins-Wahrheit miteinander zurechtkommen müssen. Das heutige Spannungsfeld traditionell frommer, emanzipatorischer und New-Age-begeisterter Kreise ist mithin keine Modeerscheinung, sondern folgt notwendig aus dem innergöttlichen, in Jesus vermenschlichten dreieinigen Sinngefüge.

Gott, Mensch geworden, kennt unsere Grenzen, überfordert uns nicht. Von Natur aus ist ein Lebewesen auf seine individuelle Perspektive festgelegt, kann fremde Blickwinkel nicht unmittelbar empfinden („Ich versichere Ihnen, dass ich nichts spüren werde”, sagte mir einst ein Dentist). So auch bei der Sinn-Wahrheit. Trotz ökumenischer Aufgeschlossenheit bleibt jeder Mensch naiv gewiss: „eigentlich und im Grunde” ist doch mein Glaube der wahre. Solche Gewissheit ist gut, nämlich das notwendige Selbstgefühl jenes Sinn- Organs, dem dieser Mensch tatsächlich als Zelle angehört.
Es ist wahr. Gerade so, wie hier und jetzt der Satz stimmt: Es ist Tag. Trotzdem irrt oder lügt mein Freund nicht, wenn er mir sagt: Es ist Nacht. Denn man telefoniert zwischen Europa und Neuseeland.

Christ, erkenne deine Würde – aber die des anderen
auch!