Die Ambivalenz der Mystik: Jenseits von Worten und Wissen
Die Bezeichnung einer ganzen Texttradition als „Mystik“ birgt eine Ambivalenz, die nicht zu übersehen ist. Laut Wörterbuch bedeutet „mystisch“ so viel wie „dunkel“, „geheimnisvoll“, „unergründlich“. Das damit verbundene Mystische ist zweifellos faszinierend, aber gleichzeitig auch schwer nachvollziehbar, nicht objektiv zugänglich und scheint wenig mit Vernunft oder Wissen zu tun zu haben. Es ist verlockend, Texte mit dem Label „Mystik“ nicht allzu ernst zu nehmen.
Doch Mystik hat durchaus eine Verbindung zum Wissen, wenn man die griechische Wortbedeutung betrachtet. In der Mystik steckt die Silbe „my“, die das Schließen des Mundes oder der Augen beschreibt. Es ist eine körperliche Reaktion auf eine Erfahrung, die sich der Sprache entzieht. Dies ist jedoch etwas Alltägliches. Etwa wenn man das Rauschen des Windes in einem Baum vor dem Fenster hört, die Augen schließt und die vielfältige Tonlage aufnimmt. Oder der erste Bissen von einem gut gekochten Mittagessen, der die Augen schließen lässt und einen genussvollen Seufzer entlockt. Oder das Schließen der Augen, um sich an vergangene Momente zu erinnern, wie das Küssen der Babybäckchen der Tochter, und an das überwältigende Gefühl der Liebe.
Kann man ausdrücken, was sich in diesen Momenten des Augenschließens ereignet? Kann man diese Unmittelbarkeit, die einen vollkommen einnimmt, in Sprache überführen? In Begriffe, in Wissen? Zumindest nicht, ohne dabei das zu opfern, was diese Erfahrungen ausmacht. Die Texte, die heute als Mystik bezeichnet werden, weisen darauf hin, dass solche Erfahrungen zu unserem Menschsein gehören und dass sie Teil unseres Wissens von der Welt sind.
Die Mystikerinnen und Mystiker haben versucht, das Unaussprechliche in Worte zu fassen. Doch ihre Texte sind keine nüchterne Abhandlung von Wissen oder Rationalität. Vielmehr sind sie ein Versuch, das Unbegreifliche zu erfassen, die Grenzen des Verstehens zu überschreiten und eine Verbindung zu einer transzendenten Wirklichkeit herzustellen. Sie sprechen von einer direkten Erfahrung des Göttlichen, die jenseits der Sprache liegt und sich nur durch die Intuition und das innere Erleben offenbart.
Diese Texte sind daher nicht nur eine Quelle der Inspiration, sondern auch eine Herausforderung für den Leser. Sie laden dazu ein, über die Grenzen des Verstehens hinauszugehen und sich auf das Geheimnisvolle und Unergründliche einzulassen. Sie erinnern uns daran, dass es Dinge gibt, die sich der rationalen Erklärung entziehen und die nur durch eine persönliche, spirituelle Erfahrung verstanden werden können.
In einer Welt, die von Wissenschaft und Rationalität geprägt ist, mag die Mystik oft als irrelevant oder sogar als überholt erscheinen. Doch gerade in einer Zeit, in der wir uns zunehmend von unserer spirituellen Dimension entfremden, können die Texte der Mystikerinnen und Mystiker eine wichtige Quelle der Inspiration und Erkenntnis sein. Sie erinnern uns daran, dass es mehr gibt zwischen Himmel und Erde, als unsere Vernunft zu begreifen vermag, und dass das Geheimnisvolle und Unergründliche einen wesentlichen Teil unserer menschlichen Erfahrung ausmacht.