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Die Entfaltung

Volljährigkeit markiert in unserer Gesellschaft den Moment, in dem ein junger Mensch rechtlich gesehen die volle Verantwortung für seine Entscheidungen und Handlungen übernimmt. In Österreich wurde diese Altersgrenze seit den 1970er Jahren schrittweise von 21 auf 18 Jahre gesenkt. Doch dieser Übergang zur Selbstständigkeit war historisch gesehen keineswegs immer so klar definiert. Im Mittelalter etwa war die Volljährigkeit ein fließender Prozess. Auf dem Land zählte nicht das Alter, sondern die körperliche Reife und die Arbeitsleistung eines Kindes. Oftmals waren junge Menschen im Alter von 12 bis 14 Jahren bereits für die Arbeit auf den Feldern verantwortlich, rechtlich mündig galten sie jedoch erst nach der Gründung eines eigenen Haushalts und der Heirat. Dabei wurden Frauen häufig von der Abhängigkeit vom Vater in die des Ehemanns überführt – ein Ausdruck der patriarchalen Strukturen jener Zeit.
Diese historischen Rückblicke verdeutlichen, dass jede Gesellschaft und jedes System eigene Kriterien dafür entwickelt, ab wann ein Mensch als „voll“ und somit eigenständig betrachtet wird. Doch sollte man nicht schon immer versuchen, das Kind von Beginn an als „voll“ zu sehen? Natürlich bedarf es Rücksichtnahme auf die kindliche Reife und das Entwicklungsstadium, aber auch Kinder haben bereits ihre eigene Persönlichkeit, ihre Fähigkeiten und Potenziale, die es zu respektieren gilt.
Der bekannte Neurobiologe Gerald Hüther betont in seinen Vorträgen immer wieder, dass wir die Möglichkeit haben, uns bewusst dafür zu entscheiden, ein bedingungsloses Interesse an der Entfaltung anderer Menschen zu haben. Er nennt das Liebe – eine tiefe Verbundenheit, die darauf abzielt, dem anderen Raum zur Entfaltung zu geben. Für Hüther bedeutet dies, dass sich der andere darauf verlassen kann, dass wir in Verbindung mit ihm bleiben und bereit sind, alles zu tun, damit er sich frei entwickeln kann. Im Kontext eines volljährigen Kindes mag dies manchmal bedeuten, einen Schritt zurückzutreten und weniger zu tun. Aber das bedingungslose Interesse an der Entfaltung bleibt, auch wenn sich die äußere Form der Unterstützung verändert.
Dieser Gedanke von Hüther ist tief berührend und geht weit über die Beziehung zwischen Eltern und Kindern hinaus. Die Vorstellung, dass wir in all unseren zwischenmenschlichen Beziehungen ein solches bedingungsloses Interesse an der Entfaltung des anderen haben können, eröffnet eine neue Perspektive auf das Miteinander. Denn das Erwachsenwerden und -sein muss nicht zwangsläufig das Abbrechen von Verbindungen bedeuten. Vielmehr kann es bedeuten, bestehende Verbindungen zu transformieren, sie zu vertiefen und sie an die neuen Lebensumstände anzupassen.
Die Beziehung zu einem Kind, das volljährig wird, ist ein gutes Beispiel dafür, wie Beziehungen sich verändern können, ohne an Tiefe zu verlieren. Eltern treten zwar zurück, geben mehr Freiraum und vertrauen darauf, dass das Kind seine eigenen Wege geht. Doch im besten Fall bleibt eine tiefe emotionale Verbindung bestehen – eine Verbindung, die von Liebe, Vertrauen und dem Wunsch nach der Entfaltung des Kindes getragen wird.
Diese Entfaltung ist jedoch kein geradliniger Prozess. Sie bringt Herausforderungen, Unsicherheiten und manchmal auch Schmerzen mit sich. Wachstumsschmerzen gehören zum Leben dazu, sowohl auf Seiten der Kinder als auch auf Seiten der Eltern. Es ist kein einfacher Weg, diese Veränderungen anzunehmen und zu begleiten. Doch gerade darin liegt der Mut, der nötig ist, um echte Entfaltung zu ermöglichen.
Der Übergang zur Volljährigkeit bedeutet nicht nur, dass ein junger Mensch mehr Rechte und Pflichten bekommt. Es ist auch ein symbolischer Moment, der zeigt, dass das Kind seinen Platz in der Welt finden muss – und darf. Dieser Prozess erfordert nicht nur von den jungen Erwachsenen Mut, sondern auch von den Eltern. Denn sie müssen loslassen und gleichzeitig präsent bleiben, bereit sein, zu unterstützen, wenn es notwendig ist, und vertrauen, dass ihr Kind seinen eigenen Weg finden wird.
Diese Balance zu finden, ist eine Herausforderung, aber auch eine Chance. Denn sie zeigt, dass Entfaltung immer wieder neu erlernt werden muss – nicht nur von den Kindern, sondern auch von den Erwachsenen. Jeder Mensch, egal ob jung oder alt, hat das Potenzial, sich immer wieder neu zu entfalten, sich weiterzuentwickeln und neue Wege zu gehen.
Erwachsenwerden bedeutet also nicht, dass alle Beziehungen neu definiert oder abgebrochen werden müssen. Im Gegenteil, gelungene Beziehungen können Raum für Entfaltung schaffen, ohne dabei die Verbindung zu verlieren. Veränderung erfordert Mut, ja, aber sie ist auch eine Quelle der Stärke und des Wachstums. Wenn wir uns selbst und anderen diesen Raum zur Entfaltung zugestehen, öffnen wir die Türen für ein erfülltes, lebendiges Miteinander – geprägt von Respekt, Vertrauen und dem gemeinsamen Wunsch, sich immer wieder neu zu entdecken.
Die Entfaltung eines Menschen ist ein lebenslanger Prozess, der nicht mit der Volljährigkeit endet. Vielmehr begleitet uns diese Entwicklung durch alle Phasen des Lebens. Und wenn wir bereit sind, uns selbst und anderen diesen Raum zu geben, dann kann sich das Leben in seiner ganzen Fülle und Schönheit entfalten.

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