Jakob und Josef: Die Unverfügbarkeit des menschlichen Lebens
Jakob liebte seinen Sohn Josef. Doch er konnte ihn nicht beschützen, nicht einmal vor seinen Brüdern. Diese Geschichte wird sowohl in der Bibel als auch im Koran geschildert und zeigt auf eindrucksvolle Weise die Grenzen menschlicher Kontrolle und Fürsorge.
Unser Leben geschieht mit uns, aber wir haben es nicht: nicht uns selbst, nicht die Menschen, die wir in Liebe umschließen. Jedes Leben scheint eine eigene Haltbarkeit zu haben, doch wer verfügt darüber – über unsere Geburt, über die Familie, in die wir hineingeboren werden, über das Altern, über das Glück, über die nächste Begegnung, die unser Leben verändern wird, über die Liebe und das Sterben? Jakob konnte Josef nicht halten. Denn der Mensch ist kein Objekt, keine Ware, kein Produkt. Er ist letztlich kein verfügbares Wesen.
Der unverfügbare Mensch ist der Mensch, der in wahrender Haltung zu sich selbst lebt, in Achtung vor sich selbst, sodass er nicht einmal über sich selbst verfügt. Unsere Würde beruht auf dieser Unverfügbarkeit. Doch genau diese Würde ist heute bedroht, wenn der Mensch zunehmend als funktionales Objekt betrachtet wird, das optimiert und verwertet werden kann. Wenn wir auf unsere messbare Leistung und nutzbare Produktivität reduziert werden, verlieren wir den Blick für die Unverfügbarkeit, Einzigartigkeit und Widersprüchlichkeit jedes Einzelnen und damit für das, was uns als Menschen ausmacht.
Unsere unverfügbare Würde liegt jenseits aller ökonomischen und technischen Instrumentalisierung. Gefragt ist also eine andere Haltung zum Menschsein, die uns in unserer Unzulänglichkeit und Brüchigkeit annimmt. Denn menschliches Leben stellt kein Kalkül dar. Es ist ein Vollzug der Freiheit, die auf der schwachen Hoffnung beruht, dass unser Leben gelingen möge.
Als Jakob hört, dass sein Josef nicht gestorben sei, müsste er an diese schwache Hoffnung erinnert sein, die mit der Frage verbunden ist, was es heißt, ein Mensch zu sein. Jakobs Geschichte lehrt uns, dass trotz aller Tragödien und scheinbaren Verluste eine tiefere Wahrheit besteht: Die Hoffnung und die Würde des Menschen sind unzerstörbar, weil sie nicht auf Verfügbarkeit beruhen.
In einer Zeit, in der der Druck zur Perfektion und Optimierung allgegenwärtig ist, müssen wir uns daran erinnern, dass wahre Menschlichkeit nicht in der Verfügbarkeit und Nutzbarkeit liegt, sondern in der Anerkennung unserer eigenen Begrenztheit und der Wertschätzung unserer Einzigartigkeit. Die Geschichte von Jakob und Josef erinnert uns daran, dass wir letztlich keine Kontrolle über das Leben und die Schicksale anderer Menschen haben, sondern dass wahre Liebe und Fürsorge in der Anerkennung der Unverfügbarkeit und der unantastbaren Würde jedes Einzelnen liegen.
So bleibt die Geschichte von Jakob und Josef nicht nur eine Erzählung über Verlust und Wiederfinden, sondern auch eine tiefere Lektion darüber, was es bedeutet, Mensch zu sein: ein Wesen, das jenseits aller Kontrolle und Verfügbarkeit existiert, das in seiner Einzigartigkeit und Würde geehrt werden muss und das durch die Hoffnung und die Liebe getragen wird.