Was wissen wir heute über die Wohnstallhäuser des Mittelalters?
Leben unter einem Dach – Mensch und Tier im mittelalterlichen Alltag
Wenn wir an das Leben im Mittelalter denken, stellen wir uns oft Burgen, Fachwerkhäuser und vielleicht noch Hütten von Bauern vor. Doch ein Haustyp war weitverbreitet, der heute kaum noch bekannt ist – das Wohnstallhaus. Dabei war es über viele Jahrhunderte hinweg die typischste Form bäuerlichen Bauens in Mitteleuropa. Was wissen wir heute darüber, wie diese Häuser gebaut, genutzt und weiterentwickelt wurden?
1. Was ist ein Wohnstallhaus?
Ein Wohnstallhaus – auch Einhaus genannt – ist ein Gebäude, in dem Menschen und Tiere unter einem Dach lebten. In der Regel war der Wohnbereich auf der einen Seite, der Stall oder Wirtschaftsbereich auf der anderen. Dazwischen lag meist der Flur (Hausgang), der beide Bereiche miteinander verband. Diese Bauform findet sich ab dem 12. Jahrhundert in ganz Europa, vor allem im deutschen, österreichischen und schweizerischen Raum, aber auch in Norditalien und Osteuropa.
Der Grundgedanke war einfach:
- Wärmeökonomie: Die Tiere spendeten im Winter Wärme für den Wohnraum.
- Platzersparnis: Man benötigte weniger Baumaterial und Fläche.
- Praktische Nähe: Man war bei Notfällen (Geburten, Krankheiten, Diebstahl) schnell bei den Tieren.
2. Bauweise und Materialien
Wohnstallhäuser wurden je nach Region unterschiedlich gebaut, aber es gibt einige gemeinsame Merkmale:
- Fachwerk- oder Blockbauweise: In Süddeutschland und den Alpen war die Blockbauweise verbreitet (massive Holzstämme), im Norden und Westen Deutschlands dominierte das Fachwerk mit Lehm- oder Ziegel-Ausfachung.
- Zweischiffiger Grundriss: Links der Stall, rechts der Wohnbereich – oder umgekehrt. Oft mit einer gemeinsamen Diele oder einem Mittelgang.
- Zwei Etagen: Im Obergeschoss befand sich häufig Lagerraum für Heu, Getreide oder das Schlafzimmer der Knechte.
- Offener Herd: Die Küche war meist das Zentrum des Hauses – mit offenem Feuer und Rauchabzug über das Dach (erst später kamen Kamine).
Die Bauweise war stark von den lokalen Gegebenheiten abhängig: In Gebieten mit viel Wald wurde viel Holz verbaut, in steinreichen Regionen dominierte Mauerwerk.
3. Der Alltag im Wohnstallhaus
Der Alltag im Wohnstallhaus war von Enge, Geruch und harter Arbeit geprägt – aber auch von Gemeinschaft und praktischer Notwendigkeit:
- Licht war knapp, Fenster klein.
- Heizung war oft der Ofen in der Küche – oder die Körperwärme der Tiere.
- Gerüche von Stall und Küche mischten sich.
- Trennung von „Wohn-“ und „Arbeitsbereich“ war fließend.
- Die Tiere standen oft in sogenannten Tennenställen, direkt neben der Schlafkammer oder der Küche.
Obwohl es uns heute befremdlich erscheint, war dieses Zusammenleben mit Tieren für die meisten Menschen selbstverständlich – es war wirtschaftlich, überlebenswichtig und ein Teil des bäuerlichen Rhythmus.
4. Varianten und Entwicklung
Mit der Zeit entstanden regionale Varianten des Wohnstallhauses:
- Das Allgäuer Einhofhaus mit Quergliederung und oft reichem Schnitzwerk
- Das Schwarzwaldhaus mit weit heruntergezogenem Dach und großem Speicher
- Das Fränkische Wohnstallhaus mit steinerner Stube und Stall aus Fachwerk
- Der Vierseithof in Ostdeutschland, bei dem Stall und Wohnbereich in getrennten Flügeln untergebracht wurden – aber oft immer noch verbunden
Ab dem 17./18. Jahrhundert begann man, Wohn- und Stallbereiche mehr zu trennen – sei es durch Umbauten, neue Nebengebäude oder gar Neubauten. Die zunehmende Hygiene, die sich wandelnden Vorstellungen von Komfort und der Einfluss neuer Bautechniken trugen dazu bei.
5. Bedeutung für die Forschung
Heute sind Wohnstallhäuser ein spannendes Forschungsfeld für Archäologie, Baugeschichte und Volkskunde. Sie erzählen uns viel über das Leben der Menschen im Mittelalter – nicht nur über ihre baulichen Lösungen, sondern auch über ihre Weltbilder:
- Der Mensch als Teil eines natürlichen Kreislaufs
- Kein Gegensatz zwischen Tier und Mensch, sondern Zusammenarbeit
- Wohnen, Arbeiten, Wirtschaften – alles unter einem Dach
Viele noch erhaltene Wohnstallhäuser stehen heute unter Denkmalschutz oder wurden zu Museumsobjekten umgewandelt – wie im Freilichtmuseum in Kommern, Bad Windsheim oder im Schweizer Ballenberg.
Fazit
Das Wohnstallhaus ist mehr als ein kurioses Relikt vergangener Zeiten. Es ist ein Symbol für eine zeitlose Form des Zusammenlebens – geprägt von Pragmatismus, Naturverbundenheit und bäuerlicher Intelligenz. In einer Zeit, in der Nachhaltigkeit und Regionalität wieder neu entdeckt werden, könnte der alte Haustyp sogar Impulse für modernes ökologisches Bauen liefern.
Denn wer weiß: Vielleicht ist das „Einhaus-Prinzip“ – das kluge Kombinieren von Wohn- und Arbeitswelt – aktueller, als wir denken.