Die Angst vor der Heimat und die Leere des modernen Nationalismus
In Zeiten wachsender Unsicherheit und sozialer Spannungen erleben wir eine Renaissance des Nationalismus, der sich als vermeintlicher Schutzschild gegen die zunehmende Komplexität und Globalisierung der Welt präsentiert. Der Begriff Horror Patriae – eine Kombination aus dem lateinischen „amor patriae“ (Liebe zum Vaterland) und „horror vacui“ (Angst vor der Leere) – beschreibt diese paradoxe Entwicklung: eine ambivalente Beziehung zur Heimat, die auf den ersten Blick von Stolz und Zugehörigkeit, in Wahrheit aber von Furcht und Leere geprägt ist.
Warum fürchten wir uns vor der Heimat?
Die Heimat, die uns Sicherheit und Geborgenheit verspricht, wird heute zunehmend zur Projektionsfläche von Ängsten und Unsicherheiten. Inmitten wirtschaftlicher Krisen, ökologischer Katastrophen und politischer Instabilität suchen viele Menschen Halt in festen Identitäten. Die Rückkehr zu vermeintlich ursprünglichen Werten und nationalen Symbolen bietet eine scheinbare Lösung für die Verwirrung und die diffuse Angst vor der Moderne.
Doch diese Flucht in die nationalen Mythen birgt eine tiefe Leere. Die Heimat wird zur Ideologie erhoben, und ihre Bedeutung wird verzerrt: Was früher ein Gefühl von Verbundenheit, Nachbarschaft und gemeinsamer Verantwortung war, verwandelt sich in eine exklusive, engstirnige Auffassung, die alles Fremde ablehnt. Horror Patriae beschreibt die Angst vor dieser Heimat, die sich mehr und mehr in eine starre Festung verwandelt, eine Heimat, die zwar Sicherheit verspricht, aber im Innersten von der Leere des Ausschlusses und der Trennung geprägt ist.
Nationalismus: Die gigantische Leere hinter der Ideologie
In den letzten Jahren erleben wir weltweit einen Aufschwung des Nationalismus, der von Regierungen und politischen Bewegungen gezielt gefördert und instrumentalisiert wird. Diese Ideologie stellt den Nationalstaat und die ethnische Homogenität als höchste Werte dar. Doch was liegt hinter dieser Fassade? Eine gigantische Leere, die entsteht, wenn der Nationalismus keine verbindenden Werte mehr anzubieten hat, sondern sich ausschließlich auf die Abgrenzung vom „Anderen“ stützt.
Die Leere manifestiert sich in der Angst, die vermeintlich „einheimischen“ Wurzeln zu verlieren, vor dem kulturellen und sozialen Wandel sowie in der Verteufelung des Fremden. Dabei wird übersehen, dass diese „Wurzeln“ selbst eine Konstruktion sind, wie Benedict Anderson in seinem Werk Die Erfindung der Nation aufzeigt. Nationale Identitäten sind nicht naturgegeben, sondern von historischen, sozialen und politischen Kräften geformt. Sie basieren auf fiktiven Erzählungen, die bestimmten Interessen dienen und die Realität der Migration, der kulturellen Vielfalt und des stetigen Wandels ignorieren.
Die Vermarktung von Nationalismen und Identitarismen
Nationalismus und Identitarismus sind heute nicht nur politische, sondern auch ökonomische Projekte. Regierungen und Medien auf der ganzen Welt haben den Wert dieser Ideologien erkannt und vermarkten sie erfolgreich. Nationale Symbole, kulturelle Besonderheiten und „authentische“ Traditionen werden zu Verkaufsargumenten, die sich in der Populärkultur, der Mode und sogar in der Werbung wiederfinden.
Dieser Prozess führt zur Normalisierung von Identitätsdiskursen, die auf ethnischen und kulturellen Unterschieden basieren. So wird das Zugehörigkeitsgefühl immer häufiger als etwas Naturgegebenes dargestellt, das auf „Blut und Boden“ basiert – eine gefährliche Entwicklung, die alte Rassen- und Stammesvorstellungen wiederbelebt.
Der Ausschluss des Hybriden und die Stigmatisierung des „Anderen“
In dieser engen, nationalistischen Logik ist kein Platz für gemischte oder hybride Identitäten. Diese werden als Bedrohung der „reinen“ nationalen Kultur gesehen und als Verrat am Eigenen abgelehnt. Der Begriff „Mischung“ wird zu einem Schimpfwort, das alle Formen des kulturellen Austauschs, der Migration und der Diversität delegitimiert.
Dabei wird übersehen, dass die meisten Nationen und Kulturen historisch gesehen immer hybrid waren. Es sind gerade die Begegnungen und Vermischungen, die das kulturelle Leben bereichern und neue Perspektiven eröffnen. Doch in der gegenwärtigen Polarisierung der Gesellschaften wird diese Realität verdrängt, und die Fixierung auf ethnische Homogenität dominiert.
Die politische Linke im Bann des Tribalismus
Besonders alarmierend ist die Tatsache, dass auch die politische Linke zunehmend diesem tribalistischen Denken verfällt. Anstatt sich auf universelle Werte wie Gerechtigkeit, Solidarität und Gleichheit zu besinnen, greift sie oft auf identitätspolitische Diskurse zurück, die ebenfalls auf der Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen basieren. Dies führt zu einer Fragmentierung und Schwächung von Bewegungen, die eigentlich auf gemeinsame, solidarische Ziele hinarbeiten sollten.
Das Vakuum an universalistischem Denken
Der Rückzug in nationale und ethnische Identitäten hinterlässt ein Vakuum an universalistischem Denken. Internationalismus, der in früheren Zeiten als Ideal der linken Bewegungen galt, wird heute oft als westliche Ideologie oder als Ausdruck eines hegemonialen Weltbildes diskreditiert. Die Vorstellung, dass Menschenrechte, Solidarität und Gerechtigkeit universell sind und alle Menschen – unabhängig von ihrer Herkunft – miteinander verbinden sollten, scheint zunehmend in den Hintergrund zu treten.
Stattdessen dominiert die Logik der Viktimisierung und Vergeltung, bei der historische und gegenwärtige Ungerechtigkeiten immer wieder auf der Grundlage von ethnischen und kulturellen Unterschieden interpretiert werden. Es fehlt an einer gemeinsamen, inklusiven Erzählung, die auf gegenseitigem Verständnis und der Fähigkeit basiert, Konflikte zu tolerieren und gemeinsam an einer besseren Zukunft zu arbeiten.
Das demontierte Konstrukt der „Authentizität“
Um dieser gefährlichen Entwicklung entgegenzutreten, ist es notwendig, das Konstrukt der „Authentizität“ zu demontieren. Nationale und ethnische Identitäten sind keine festen, naturgegebenen Größen, sondern Produkte historischer und kultureller Prozesse. Sie können und müssen hinterfragt, aufgebrochen und transformiert werden, um Platz für eine Welt zu schaffen, in der Vielfalt als Stärke und nicht als Bedrohung wahrgenommen wird.
Die Kunst, die Philosophie und die Literatur können dabei helfen, Räume für neue, hybride Erzählungen zu schaffen, die sich nicht an den starren Grenzen der Identitätspolitik orientieren. Diese Erzählungen könnten uns eine Zukunft eröffnen, in der Solidarität, Menschenrechte und das Zusammenleben über kulturelle und ethnische Grenzen hinaus die Grundlage unseres Handelns bilden.
In einer Zeit, in der Nationalismen und Identitarismen die politische und intellektuelle Landschaft dominieren, ist es wichtiger denn je, den Mut zu haben, diese vermeintlichen „Authentizitäten“ zu hinterfragen und alternative, universelle Erzählungen zu entwickeln.
Schlussfolgerung
Horror Patriae beschreibt nicht nur die Angst vor der Heimat, sondern auch die Angst vor der Leere, die entsteht, wenn wir uns auf Nationalismus und Identitarismus zurückziehen. Diese Ideologien bieten keine echte Antwort auf die Herausforderungen der Moderne, sondern verstärken die Spaltungen und führen zu einem Verlust an Solidarität und Mitgefühl. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, müssen wir uns auf universelle Werte und eine offene, diverse Zukunft besinnen. Nur so können wir der Leere des modernen Nationalismus entkommen.