Das Jonglieren des Lebens
Volljährigkeit bedeutet nicht nur, dass unser Kind nun offiziell erwachsen ist, sondern sie markiert auch den Punkt, an dem man als Elternteil auf „volle Jahre“ zurückblickt. Jahre, die von einer Vielzahl an Qualitäten, Phasen und Herausforderungen geprägt waren. Die Zeitspanne von der Schwangerschaft bis zum Schulabschluss ist oft eine emotionale Achterbahnfahrt. Wir haben unzählige Stunden investiert, um zu betreuen, zu kochen, abzuholen, zu beraten, zu grübeln, zu jubeln, zu hadern und manchmal auch zu zweifeln. Aber wir haben auch viel gelacht und uns immer wieder neu orientiert. Jeder Einzelne in der Familie hat in dieser Zeit so viel gelernt und sich weiterentwickelt.
Wenn das Kind dann volljährig wird oder sogar das Elternhaus verlässt, kommt unweigerlich der Moment, in dem man Bilanz zieht. Allerdings ist das Wort „Bilanzziehen“ vielleicht zu nüchtern, zu technisch für diese sehr emotionale Rückschau. Vielmehr fragt man sich vielleicht, was einen während all dieser Jahre begleitet oder getragen hat – bewusst oder unbewusst. Welche Werte wollte man dem Kind vermitteln? Welche Überzeugungen hat man selbst gelebt, die das Kind durch Nachahmung übernommen hat? Wir wissen heute, dass Kinder durch Vorbilder und nicht durch Ermahnungen am meisten lernen. Was war also unser Vorbild, das wir unseren Kindern mit auf den Weg geben wollten?
Für mich bestand ein zentrales Anliegen darin, zu erkennen, welcher Ball beim Jonglieren des Lebens aus Glas ist. Denn letztlich jonglieren wir alle – wir Eltern, aber auch unsere Kinder – mit einer Vielzahl von Bällen in der Luft: Arbeit, Haushalt, Familie, Freundschaften, Gesundheit, Bildung und nicht zuletzt unsere Werte und Überzeugungen. Diese vielen Bälle in der Luft zu halten, ist manchmal ein Balanceakt. Manchmal gelingt uns das mühelos, manchmal schwanken wir auf wackeligen Beinen und unser Blick ist getrübt. Doch egal, wie sicher oder unsicher wir uns fühlen, wir versuchen immer, die Kontrolle über all diese Bälle zu behalten, damit keiner herunterfällt.
Dabei ist es jedoch entscheidend, zu erkennen, welche dieser Bälle aus Glas sind und welche aus Stoff oder Plastik. Die Glasbälle – das sind die Dinge, die zerbrechen können, wenn sie fallen. Sie sind die kostbarsten Bestandteile unseres Lebens: unsere Gesundheit, unsere engsten Beziehungen, unsere Werte und unsere Liebe. Sie bedürfen unserer ständigen Aufmerksamkeit und Pflege.
Plastik- oder Stoffbälle hingegen sind robuster. Sie können durchaus einmal herunterfallen, ohne dass es ernsthafte Konsequenzen hat. Wenn wir uns immer nur darauf konzentrieren, jeden Ball in der Luft zu halten, laufen wir Gefahr, den Blick für das Wesentliche zu verlieren. Denn manchmal ist es in Ordnung, wenn eine Aufgabe oder eine Verpflichtung einmal nicht perfekt erfüllt wird. Manchmal können wir eine Pause einlegen, ohne dass etwas Wesentliches verloren geht.
Es ist eine Kunst, dieses Jonglieren zu meistern. Es erfordert Weisheit und Erfahrung, um zu erkennen, welche Aufgaben und Verpflichtungen flexibel sind und welche unbedingt unserer ungeteilten Aufmerksamkeit bedürfen. Manchmal gelingt uns das besser, manchmal schlechter. Doch das Leben ist ein ständiger Lernprozess, und auch als Eltern müssen wir immer wieder dazulernen.
Diese Erkenntnis, dass nicht jeder Ball in unserem Leben aus Glas ist, kann uns helfen, etwas mehr Leichtigkeit in unser tägliches Jonglieren zu bringen. Und sie kann auch unseren Kindern helfen, die eigene Balance zu finden. Denn letztlich lernen sie durch unser Vorbild, dass es in Ordnung ist, auch mal etwas loszulassen. Was wirklich wichtig ist, muss mit Sorgfalt gehütet werden – das andere wird seinen Platz schon finden.
Diese Unterscheidung, dieses bewusste Erkennen der Prioritäten, ist eine hohe Schule des Lebens. Es ist jedoch zugleich eine alltägliche Notwendigkeit. Nur so können wir verhindern, dass wir uns in der Vielzahl von Aufgaben und Erwartungen verlieren. Und nur so können wir sicherstellen, dass die Dinge, die wirklich von Bedeutung sind, stets unsere Liebe und Aufmerksamkeit erhalten.
So bleibt das Jonglieren des Lebens eine ständige Herausforderung, aber auch eine Chance, immer wieder neu zu lernen und zu wachsen – als Individuen, als Eltern und als Familie.