Die Geheimstatuten des Templerordens:
Mythos und Realität
Geschichte
Die Idee, dass der Templerorden über sogenannte „Geheimstatuten“ verfügte, die eine von der katholischen Lehre abweichende Religion sowie einen „Orden im Orden“ begründeten, hat ihren Ursprung in spekulativen Theorien, die vor allem von populärwissenschaftlichen Autoren und Romanschriftstellern entwickelt wurden. Eine der frühesten und einflussreichsten Theorien dieser Art stammt von Friedrich Nicolai, der 1783 erstmals die Idee eines geheimen, ketzerischen Templerordens in die öffentliche Diskussion einführte. Später griff der französische Autor Gérard de Sède in seinem Buch Die Templer sind unter uns (1962) diese Theorie auf und behauptete, der dänische Bischof Friedrich Münter habe 1780 in den Archiven des Vatikans eine offizielle Regelfassung des Templerordens sowie besagte „Geheime Statuten“ entdeckt. Diese sollen von einem gewissen „Meister Roncelin“ verfasst worden sein. Münter behauptete, der zweite Teil dieses Manuskripts sei „auf unerklärliche Weise verschwunden“.
Friedrich Münter (1761-1830), der angebliche Entdecker dieser kompromittierenden Geheimstatuten, war eine durchaus bemerkenswerte historische Persönlichkeit. Er war Theologe, Historiker, Archäologe und ein prominentes Mitglied der Freimaurer. Später wurde er sogar Bischof von Seeland. Münter verfasste zahlreiche theologische und kirchengeschichtliche Werke, darunter eine Abhandlung über die Geschichte der Templer und den Prozess gegen den Orden, die 1794 erschien. Allerdings findet sich in diesem Werk keine Erwähnung von Geheimstatuten.
Ein weiteres Kapitel in der Geschichte der angeblichen Templer-Geheimstatuten wurde von Theodor Merzdorf eröffnet, der 1877 behauptete, eine Handschrift dieser Geheimstatuten „zufällig in Hamburger Privatarchiven“ gefunden zu haben. Diese Handschrift sollte angeblich eine Kopie von Originaldokumenten sein, die aus den vatikanischen Archiven stammten. Merzdorf diskutierte ausgiebig die Frage, ob diese Statuten gefälscht seien, und kam schließlich zu dem Schluss, dass sie wahrscheinlich echt seien. Allerdings widerlegte der Historiker Heinrich Prutz (1878) die Authentizität dieser „Merzdorfschen Statuten“ und bewies, dass es sich um eine Fälschung aus dem 19. Jahrhundert handelte, die vermutlich im Umfeld der Freimaurer entstanden war.
Inhalt der „Geheimstatuten“
Die „Merzdorfschen“ Geheimstatuten bestehen aus vier Teilen:
- Reguläre Ordensregel: Der erste Teil enthält die reguläre Ordensregel des Templerordens mit 72 bekannten Punkten, ergänzt durch einige Zusatzbestimmungen zum Loskauf von Gefangenen und zur Gehorsamspflicht gegenüber dem Patriarchen von Jerusalem.
- Statuta Secreta: Der zweite Teil, der sich „Statuta Secreta“ nennt, soll angeblich vom Präzeptor der Normandie, Roger de Montaigu, und dem Prokurator der Häuser in der Normandie, Robert de Barris, eingesetzt worden sein. Dieser Abschnitt enthält angeblich geheime Regeln für den Orden.
- Liber Consolamenti: Der dritte Teil, „Liber Consolamenti“, scheint einen mystisch-religiösen Inhalt zu haben, der die Templer in eine geistige Tradition mit anderen Bewegungen wie den Katharern, Waldensern und Freimaurern stellt.
- Weitere Regeln und Symbole: Der vierte Teil enthält weitere Regeln für geheime Erkennungszeichen, Passwörter und Anweisungen zur Alchemie, angeblich verfasst von „Meister Roncelin“.
Der Text ist in einer Form von Latein verfasst, die sich jedoch deutlich von der mittelalterlichen Sprache unterscheidet, was auf eine spätere Fälschung hindeutet. Die Paragraphen weisen deistische Züge auf und postulieren eine Gleichheit der Religionen. Die römische Kirche wird in diesem Text als „Synagoge des Antichrist“ und „Neu-Babel“ bezeichnet. Es werden zwei verschiedene Aufnahmeriten genannt, darunter eine mit Elementen, die den Anklagepunkten des Prozesses gegen den Orden entlehnt sind, wie die Verunehrung des Kreuzes und unsittliche Küsse. Zudem wird ein „Baphometgebet“ erwähnt, bei dem der enthüllte „Baphomet“ mit „Allah“ angerufen wird.
Verwirrung um die „Geheimstatuten“
Neben den heterodoxen Geheimstatuten, wie sie von Merzdorf und anderen Autoren präsentiert wurden, gibt es auch Hinweise auf sogenannte Retrais, die reguläre Erweiterungen der Ordensregel darstellen. Diese wurden ebenfalls manchmal als „Geheimstatuten“ bezeichnet, obwohl sie vollständig im Einklang mit den kirchlichen Lehren standen. Diese Verwirrung wurde durch Autoren wie Maillard de Chambure weiter verstärkt, der sich ebenfalls auf Bischof Münter berief.
Die Idee der Geheimstatuten des Templerordens ist ein Mythos, der auf spekulativen Theorien und späteren Fälschungen basiert. Obwohl diese Geschichten immer wieder aufgegriffen und ausgeschmückt wurden, gibt es keinerlei glaubwürdige historische Beweise, die die Existenz solcher Dokumente bestätigen würden. Die Vorstellung von einem geheimen, ketzerischen „Orden im Orden“ gehört eher in den Bereich der Fiktion und der Verschwörungstheorien als in die historische Realität des Templerordens.