Papst Franziskus und das Dokument von Abu Dhabi
Was bedeutet die Anerkennung religiöser Vielfalt für die Kirche?
Im Februar 2019 unterzeichnete Papst Franziskus gemeinsam mit dem Großimam von al-Azhar das „Dokument über die Brüderlichkeit aller Menschen“ in Abu Dhabi. Darin heißt es unter anderem, dass Gott die Vielfalt der Religionen gewollt habe und dass Jesus nicht der einzige Überbringer der göttlichen Botschaft sei. Diese Aussagen sorgten weltweit für Aufsehen – nicht nur unter Christen, sondern auch innerhalb der katholischen Kirche. Was bedeuten diese Worte für die Lehre der Kirche? Gilt dieses Dokument als unfehlbare Lehre? Und wie wird ein zukünftiger Papst damit umgehen?
Die Kernaussagen des Dokuments – Ein Paradigmenwechsel?
Das Dokument betont:
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Gott hat die Vielfalt von Religionen, Geschlechtern, Hautfarben und Sprachen gewollt.
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Kein Mensch oder keine Institution darf Gewalt im Namen Gottes rechtfertigen.
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Alle Menschen sind Brüder, unabhängig von ihrem Glauben.
Insbesondere der Satz über die gewollte Vielfalt der Religionen stellt einen Bruch mit der traditionellen katholischen Lehre dar, nach der nur Jesus Christus der Weg, die Wahrheit und das Leben ist (Joh 14,6). Für viele Gläubige bedeutet diese Aussage eine Relativierung der Einzigartigkeit Jesu und eine Abkehr vom exklusiven Wahrheitsanspruch des Christentums.
Unfehlbarkeit des Papstes – Gilt das für dieses Dokument?
Die katholische Lehre unterscheidet klar zwischen persönlichen Meinungen eines Papstes und der sogenannten päpstlichen Unfehlbarkeit. Diese ist nur dann gegeben, wenn der Papst:
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Ex cathedra, also in seiner höchsten amtlichen Funktion als Oberhaupt der Kirche,
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eine Lehre über Glauben oder Moral,
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verbindlich und endgültig für alle Gläubigen verkündet.
Das Dokument von Abu Dhabi ist kein ex cathedra-Dekret, sondern eine gemeinsame Erklärung mit einem islamischen Religionsführer. Es hat daher keine unfehlbare Verbindlichkeit im dogmatischen Sinne. Es ist ein pastoraler Text, der zum Dialog und Frieden aufruft, aber keine verbindliche Glaubenswahrheit festlegt.
Was bedeutet das für den nächsten Papst?
Da das Dokument nicht unter die Unfehlbarkeit fällt, ist ein zukünftiger Papst nicht daran gebunden, diese Aussagen aufrechtzuerhalten. Jeder Papst hat die Freiheit, Schwerpunkte zu setzen und gewisse Positionen seines Vorgängers zu bekräftigen oder zu relativieren. Es könnte also durchaus sein, dass ein nachfolgender Papst wieder stärker die Einzigartigkeit des Christentums betont und sich von der Idee der von Gott gewollten religiösen Vielfalt distanziert.
Die Auswirkungen auf die Christenheit
Trotz fehlender dogmatischer Verbindlichkeit hat das Dokument große symbolische Kraft. Es steht für einen neuen Kurs, der den interreligiösen Dialog über konfessionelle Grenzen hinweg fördert. Für viele Gläubige ist dies ein Zeichen von Offenheit und Toleranz. Andere sehen darin einen gefährlichen Kompromiss, der den Kern des christlichen Glaubens verwässert.
Wichtig bleibt: Das Christentum gründet sich auf die Überzeugung, dass Jesus Christus der Sohn Gottes und der einzige Mittler zwischen Gott und den Menschen ist. Diese Lehre wurde durch das Dokument nicht formell aufgehoben, aber sie wurde in einem neuen Licht dargestellt, das zur Diskussion anregt.
Fazit: Ein umstrittenes Signal, aber kein unumstößliches Dogma
Das Dokument von Abu Dhabi hat Papst Franziskus als Zeichen der globalen Brüderlichkeit und religiösen Verständigung unterzeichnet. Es enthält Aussagen, die viele Christen herausfordern und als Abkehr von traditionellen Wahrheiten empfinden. Doch es ist kein unfehlbares Lehrschreiben und bindet weder die Gläubigen noch zukünftige Päpste in dogmatischer Hinsicht. Die Diskussion darüber, wie weit die Kirche im interreligiösen Dialog gehen darf, bleibt offen – ebenso die Frage, wie die christliche Identität in einer pluralen Welt bewahrt werden kann.