⚔️ Gedanken am 5. Oktober
Wenn das alte Leben endet – und das neue beginnt
Der letzte Gedanke, der mir durch den Kopf schoss, bevor ich – nach der gestern erwähnten Sitzung mit AIDS-Kranken – frontal gegen ein anderes Auto knallte, war:
„Na ja, vielleicht habe ich so wenigstens eine Nahtoderfahrung.“
Ich hatte keine im technischen Sinn dieses Wortes – kein Lichttunnel, keine Engelgestalten –, wohl aber in einem anderen Sinn: In jenem Augenblick endete mein bisheriges, altes Leben.
Nach einer Nasenoperation und einigen Tagen im Krankenhaus wurde mir schlagartig bewusst, dass mir vieles an meinem Leben nicht mehr gefiel. Und wenn jeder Augenblick unser letzter sein kann, warum dann Entscheidungen auf die lange Bank schieben?
Schon wenige Monate später hatte ich meine Arbeit im Krankenhaus und meine Lehrtätigkeit am Medizinischen Institut der Harvard-Universität aufgegeben. Es war, als hätte mich dieser Unfall mit brutaler Klarheit geweckt: Warte nicht. Lebe. Handle.
Der Verlust des alten Gesichts
Eine Freundin machte damals eine kluge Beobachtung. Hätte es ihr Traum gewesen, sagte sie, hätte sie darin gesehen, dass ich – weil mir bei dem Unfall die Nase beinahe abgetrennt wurde – „das Gesicht verloren hatte“.
Diese Deutung traf mich ins Mark. Denn tatsächlich hatte ich mich in einer Lebenssituation befunden, in der mein „altes Gesicht“ – meine Rollen, meine Gewohnheiten, meine berufliche Identität – nicht mehr zu mir passten. Der Unfall war vielleicht kein Zufall, sondern ein drastisches Symbol: Es ist Zeit, dein altes Gesicht abzulegen, damit das neue erscheinen kann.
Die Templer wussten um diese Dynamik. Wer sich auf den Weg des inneren Ritters begibt, muss bereit sein, die Maske fallen zu lassen, die ihn an das Alte bindet. Der Tod – ob wörtlich oder symbolisch – ist der Eingang in ein neues Leben.
Templer-Perspektive: Der Traumcharakter des Lebens
In unserer Tradition gilt: Alles, was uns widerfährt, kann wie ein Traum betrachtet werden – ein Spiegel unseres Inneren, der uns zeigt, wo wir stehen. Wenn wir dieses Bild annehmen, werden selbst schmerzliche Ereignisse zu Lehrern.
So wie der Unfall mein äußeres Gesicht verletzte, damit ich mein inneres Gesicht neu entdecke, so sind auch deine Krisen vielleicht ein Ruf, neu hinzuschauen.
Tägliche Templerarbeit
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Stille: Verweile für ein paar Minuten im Gebet der Sammlung oder in der Shamatha-Vipassana-Meditation.
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Übung: Frage dich: „Wenn mein Gespräch mit der AIDS-Gruppe und der anschließende Frontalzusammenstoß ein Traum gewesen wären – welche Erklärungen würde ich darauf projizieren?“
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Lies wenn nötig die Anleitung vom 18. September noch einmal.
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Sage dir dann: „Wenn das mein Traum wäre, …“ – und höre, was in dir aufsteigt.
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Beobachtung: Welche Maske, welches „Gesicht“ hältst du vielleicht noch fest? Wo ruft dich das Leben, es fallen zu lassen?
Apropos: Wie laufen deine Traumübungen? Schreib deine Deutungen auf. So entsteht allmählich dein eigenes „Buch der Zeichen“, wie es die alten Templer taten.
Fazit – Der Mut zum neuen Gesicht
Manchmal nimmt das Leben uns etwas, damit wir es neu finden – so wie mir der Unfall half, mein „Gesicht“ zu verlieren und ein neues zu gewinnen. Wenn wir lernen, jedes Ereignis als Spiegel zu sehen, verwandeln wir Schmerz in Erkenntnis und Stillstand in Aufbruch.
Der Templerweg ruft uns genau dazu auf: mit dem Tod vertraut zu sein, die Masken abzustreifen und im Bewusstsein der Vergänglichkeit mutig das Neue zu ergreifen.
