Lügen Sie zu viel?
Menschen lügen – einige weniger, andere mehr. Wo aber ist die Grenze zwischen „normaler“ und krankhafter Lüge? Und: Gibt es sie überhaupt?
Was ist überhaupt eine Lüge?
Eine wissenschaftliche Definition lautet: Eine Lüge ist eine wissentliche Falschaussage, die eine Person mit einer bestimmten Absicht äußert. Das bedeutet: Wenn ich die Unwahrheit sage, weil ich es nicht besser weiß, dann lüge ich nicht. Lügende Menschen täuschen bewusst.
Warum lügen Menschen?
Lüge ist nicht gleich Lüge. Menschen unterscheiden und werten Falschaussagen je nach deren Motiv. Aus dem Englischen stammen die Begriffe „White Lies“ und „Black Lies“, also weiße und schwarze Lügen.
Schwarze Lügen sind verpönt, denn ihr Ziel ist es, anderen zu schaden und sich einen Vorteil zu verschaffen. „Diese Menschen handeln egoistisch“, sagt Philipp Gerlach, Professor für Allgemeine und Sozialpsychologie an der Hochschule Fresenius für Wirtschaft und Medien in Hamburg. Gerlach ist Co-Autor einer wissenschaftlichen Übersichtsarbeit, die mehr als 500 Experimente über das Lügen analysiert hat.
Ein Beispiel: Die Geschäftsfrau, die Lügen über ihren Konkurrenten verbreitet, um einen prestigeträchtigen Auftrag zu erhaschen. Ein Autoverkäufer, der einen Unfallwagen wissentlich als unfallfrei verkauft. Hier wären sich alle Menschen schnell einig: Das ist Betrug und unmoralisch.
Weiße Lügen hingegen tolerieren Menschen in vielen Kulturen nicht nur, sondern fordern sie sogar. Solche prosozialen Lügen nutzen Personen zum Beispiel, um zu trösten, höflich zu sein oder Konflikte zu vermeiden. Manchmal möchte man aber auch einfach nicht die Gefühle anderer Menschen verletzten. „Schöner Pulli“, sagt dann die Kollegin, auch wenn die Farbe ihr nicht gefällt.
Nicht alles schwarz oder weiß
Manche Lügen fallen nicht eindeutig in die eine oder andere Kategorie. Als „Fifty Shades of Lies“ beschreibt Sozialwissenschaftler Gerlach die Vielfalt. Ein Kind beispielsweise macht etwas kaputt und lügt die Betreuungsperson an: „Ich war das nicht.“
Der Kumpel deckt seine Freundin und schützt dabei nicht nur sie. Diese Lüge nützt ihm selbst ebenso, denn er profitiert von der Freundschaft. Fachleute sehen in solchen Fällen sowohl altruistische als auch egoistische Motive.
Erst Gefühl, dann Leistung
Wenn Menschen lügen, dann meist zu ihrem eigenen Vorteil. Inhaltlich geht es meist um zwischenmenschliche Gefühle, stellten US-amerikanische Forschende bereits im Jahr 1996 fest, also etwa vorgetäuschte Freude oder verborgene Wut.
„Ich freue mich, mit dir zusammen an diesem Projekt zu arbeiten“, sagt beispielsweise der Angestellte zu seiner Chefin, auch wenn er sie nicht leiden kann. Die Wahrheit würde ihn aber eventuell seinen Job kosten.
An zweiter und dritter Stelle folgen gelogene Pläne – „Ich habe dieses Wochenende keine Zeit, weil ich unterwegs bin.“ – und „Achievements“, also übertriebene Erfolgsberichte oder verschleierte Fehler.
Gibt es krankhafte Lügner?
Anna Sorokin täuschte unter ihrem Pseudonym Anna Delvey jahrelang die New Yorker High Society. Sie gab sich als reiche Erbin aus und betrog Geschäftsleute und Banken um Hunderttausende US-Dollar. Im Jahr 2017 flog der Schwindel auf, Sorokin wurde wegen Betrugs zu einer Gefängnisstrafe verurteilt.
Das US-amerikanische Biotechnologie-Unternehmen Theranos versprach einen schnellen und günstigen Bluttest, der mithilfe von nur wenigen Tropfen Blut Hunderte Erkrankungen gleichzeitig erkennen sollte.
Dafür warb die Gründerin Elizabeth Holmes von Investoren mehr als eine halbe Milliarde US-Dollar Kapital ein. Allerdings funktionierte dieser Test nie. Ein Gericht verurteilte Holmes wegen Betrugs, sie verbüßt ihre mehrjährige Haftstrafe seit Mai 2023.
Beide Frauen täuschten ihre Mitmenschen über Jahre, indem sie ihnen Lügen erzählten. Jeder würde zustimmen: Das ist mehr als die einfache Lüge im Alltag – etwa über den verspäteten Bus, den es nie gab. Ist dieses exzessive Lügen schon pathologisch?
Dass es Menschen gibt, die unnormal viel lügen, das ist belegt. Uneins sind sich Fachleute allerdings darüber, ob krankhaftes Lügen wirklich ein eigenständiges Krankheitsbild ist.
Pseudologia fantastica
Über sogenannte Pseudologen, also krankhafte Lügner, gibt es etliche wissenschaftliche Veröffentlichungen. Diese Publikationen versuchen, das krankhafte vom nicht-pathologischen Lügen abzugrenzen.
So gibt es die Erklärung, dass Pseudologen sich vor der Realität, in der sie leben, schützen, indem sie eine andere Realität erschaffen. Das kann zum Beispiel ein Mensch sein, der in seiner Kindheit Traumata und Vernachlässigung erlebte. Fantastische Geschichten machen ihn interessant für seine Mitmenschen, er erfährt die Aufmerksamkeit, die er zuvor nie hatte.
Ein offensichtliches Motiv der einzelnen Lügen fehlt dann. Andere Forschende definieren pathologisches Lügen als exzessives Verhalten, das über Monate anhält und das soziale Leben, die berufliche Existenz oder die Gesundheit des Lügners selbst und seiner Mitmenschen gefährdet.
Ein wichtiges Merkmal scheint zu sein: Werden die Personen mit ihren Lügen konfrontiert, können sie diese als Unwahrheit zugeben. Das unterscheidet Pseudologen von Menschen mit Wahnvorstellungen.
Symptom oder eigenständige Erkrankung?
Dennoch: Eine eindeutige Definition von Pseudologia fantastica gibt es bislang nicht. Laut Lügenforscher Matthias Gamer, Professor für Experimentelle Klinische Psychologie an der Universität Würzburg, hat das einen Grund: „Pathologisches Lügen ist – Stand jetzt – keine isolierte Störung“, sagt er. Eher sei das Verhalten Symptom oder Begleiterscheinung anderer Erkrankungen.
Häufig tritt übermäßiges Lügen beispielsweise bei Borderline- und narzisstischen Persönlichkeitsstörungen oder dem Münchhausen-Syndrom auf. Bei letzterem erfinden Personen Krankheiten, um Aufmerksamkeit zu bekommen.
Im Gegensatz zu Pseudologia fantastica taucht das Münchhausen-Syndrom in der sogenannten ICD-Klassifikation auf, in welcher weltweit anerkannte Erkrankungen aufgeführt sind. Warum ist das wichtig? Gerichte werten psychische Erkrankungen der Angeklagten mitunter als strafmildernd.
Wäre pathologisches Lügen eine eigenständige psychische Störung, könnten Anwälte dies in ihrer Verteidigung nutzen. Einige Forschende fordern deshalb, pathologisches Lügen als eigenständige Erkrankung anzuerkennen, um Klarheit zu schaffen.
Keine Behandlungsempfehlungen
Da Pseudologia fantastica aktuell nicht als eigenständige psychische Störung klassifiziert ist, gibt es auch keine Zahlen, wie viele Menschen pathologisch viel lügen. Und es fehlen auch klare Empfehlungen, wie pathologisches Lügen psychotherapeutisch behandelt werden kann. Laut Psychologe Gamer müssten Psychotherapeuten die zugrundeliegende psychische Erkrankung therapieren – das Lügen sei ein Teil davon.
Wie kann ich erkennen, ob mich jemand anlügt?
In der US-Serie „Lie to me“ erkennt Lügenexperte Cal Lightman an einem Zucken des Mundwinkels oder einer minimal erweiterten Pupille, ob sein Gegenüber lügt. Die Idee, dass solche „nonverbalen Mikroexpressionen“ Lügen entlarven können, stammt vom US-amerikanischen Emotionsforscher Paul Ekman. Bereits in den 1960er-Jahren veröffentlichte er Theorien über kaum wahrnehmbare Veränderungen der Mimik und Gestik, die unterdrückte Gefühle verraten sollen.
Allerdings: Es gibt keine neueren Studien, die diese Theorie bestätigen. Ganz im Gegenteil, auch Menschen, die nicht täuschen, zeigen Mikroexpressionen. Ob jemand lügt oder nicht, lässt sich dadurch nicht erkennen.
Nicht besser als der Zufall
Forschende versuchen schon lange herauszufinden, wie gut Menschen Lügen erkennen. Das Fazit ist allerdings ernüchternd: In den meisten Fällen liegt die Treffsicherheit, eine Lüge zu erkennen, im Bereich des Zufalls. Selbst Eltern gelingt es laut einer Studie aus dem Jahr 2016 oft nicht, ihre eigenen Kinder beim Flunkern zu entlarven. Eine enge Beziehung schützt also nicht davor, belogen zu werden.
Wichtig ist zudem, wie selbstsicher ein Mensch auftritt, wenn er lügt. Einer Person, die eloquent spricht, vertrauen Menschen mehr als einer, die unsicher auftritt und leise und stockend spricht. Oder anders gesagt: Einer sauber vorgetragenen Lüge glaubt man eher als einer gestotterten Wahrheit.
Auch Lügendetektoren sind nicht besonders zuverlässig. Die sogenannten Polygrafen messen, wie schnell das Herz schlägt oder ob die Person schwitzt. Allerdings reagieren einige Menschen schon allein auf eine Befragung mit Stress, egal ob sie lügen oder nicht. Andere wiederum bleiben auch ruhig, wenn sie lügen.
Details sind der Schlüssel
Sind wir Lügnerinnen und Lügnern also hilflos ausgeliefert? Nein, sagt Matthias Gamer. Man müsse sich von der Vorstellung lösen, eine Lüge am Gesicht oder Verhalten des Gegenüber zu erkennen. „Wir müssen auf das hören, was gesagt wird“, sagt der Psychologe. Ist die Erzählung plausibel? Gibt der Erzähler auf wiederholte Nachfragen immer die gleichen Antworten? Fachleute sprechen von der Kohärenz des Gesagten.
Dem stimmt Sozialwissenschaftler Philipp Gerlach zu: „Spontanen Lügen fehlen oft wichtige Details“, sagt er. Gab es in dem Zug, der angeblich zu spät am Zielort ankam, eine technische Störung, oder wie lautete die Durchsage des Bahnpersonals konkret?
Zögert das Gegenüber bei dieser Frage, muss er das Detail der erfundenen Geschichte kurzfristig hinzufügen.
In einer aktuellen Studie testeten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, wie gut die Teilnehmenden Lügen erkannten. Entschieden sie intuitiv, schnitten sie auf dem Zufallsniveau ab. Erklärten die Studienleiter ihnen aber, sich auf bestimmte Details zu konzentrieren, erkannten sie Lügen zuverlässiger.
Beispielsweise sollten die Teilnehmenden sich ausschließlich darauf konzentrieren, wie detailliert der potenzielle Lügner eine bestimmte Person beschrieb, statt gleichzeitig auf den Ort, die beschriebene Handlung und die Personenbeschreibung in der Geschichte zu achten.
Misstrauen hilft, Lügen zu erkennen
Das kann man lernen. Geschulte Menschen wie Polizisten, Richterinnen oder Psychiater hätten keinen sogenannten Truth Bias, sagt Matthias Gamer: „Sie gehen schlichtweg davon aus, öfter belogen zu werden.“ Fachleute mit entsprechender Ausbildung achten vermehrt darauf, ob Erzählungen kohärent sind oder sie Details enthalten, die sich leicht überprüfen lassen. Das erleichtert es ihnen, Lügen aufzudecken.
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Und jetzt?
Menschen vertrauen Menschen
Für Gamer und Gerlach hat es etwas Gutes, dass Menschen schlecht darin seien, Lügen zu erkennen. „Wir leben in einer Gesellschaft, in der wir andere Menschen grundsätzlich für vertrauenswürdig halten“, sagt Gerlach.
Und diese Annahme sei in den meisten Fällen ja auch richtig, ergänzt Gamer: „Wenn wir ein- oder zweimal am Tag belogen werden, heißt das im Umkehrschluss, dass der Rest der Kommunikation wahrheitsgemäß ist.“ Warum sollte das Gehirn dann die ganze Zeit in Habacht-Stellung sein und jedes ausgesprochene Detail überprüfen? „Wir gehen erst einmal davon aus, dass unser Gegenüber uns die Wahrheit erzählt“, sagt Gamer.
Vor allem, wenn die Aussagen zu Gelerntem oder in unser Weltbild passen. Philipp Gerlach nennt das Beispiel falscher Ärzte: „Wenn mir jemand in der Klinik begegnet, der einen weißen Kittel trägt und Fachsprache verwendet, dann ist es für mich plausibel, dass das ein Arzt ist.“
Betrüger würden dieses Grundvertrauen der Menschen systematisch ausnutzen und ihre Lügengebilde Stück für Stück vergrößern – solange keine Konsequenzen drohen. Deshalb blieben Betrüger oft jahrelang unentdeckt. Gerlach sagt: „Eine erfolgreich platzierte Lüge braucht immer jemanden, der sie glaubt.“ Und offenbar glauben die meisten Menschen eben eher an das Gute in ihren Mitmenschen.