Muslime und Christen – Glieder einer Glaubensfamilie

Früher war der Islam uns etwas Fernes. Leser schätzten den klugen Kalifen Harun al Raschid und den lustigen Hadschi Halef Omar – mit unserem Alltag aber hatten deren Märchenwelten nichts zu tun. Und heute? Da spielen unsere Kinder auf dem Pausenhof mit türkischen Kameraden, einheimische Gewerkschaftler unterstützen das Verlangen muslimischer Kollegen nach einem Gebetsraum, und manchem ist es vielleicht ähnlich wie mir ergangen, als ein muslimischer Freund mich einmal in die Moschee mitnahm und ich schon sehr beeindruckt war vom Ernst dieser Männer,
wie sie plötzlich wie ein Mann donnernd auf die Knie fielen und sich tief verbeugten. Ist also etwa doch Mohammed der Prophet?

Natürlich gibt es nicht die christliche Einstellung zu den Muslimen. Zu verschieden sind die geistlichen Situationen. Anders werde ich einem gläubigen Kind begegnen; anders einem fanatischen, anders einem ökumenisch gesinnten Imam, und auch anders heute, anders morgen. Denn zwar soll die Liebe immer dieselbe
sein, ihr Ausdruck aber muss wechseln. „Alles hat seine Zeit” (Pred. 3,1).

Vielleicht hilft Ihnen, wie mir, ein Jesuswort, das man selten hört. Die folgende Überlegung ist freilich keine wissenschaftliche Exegese; ein uraltes Christenrecht erlaubt uns jedoch, biblische Aussagen selbständig weiterzudenken.
„Ich bin die Tür”, sagt Christus (Joh. 10, 9). Nun: für eine Tür ist es wesentlich, dass sie offen oder zu sein kann. Daraus schliesse ich für unsere Frage:
Das eine Mal ist, von Gott her, die Tür zwischen Christen und Andersgläubigen geschlossen. Wir glauben an Christus, die Muslime an den Koran. Der Gegensatz
ist auszuhalten, überbrückbar ist er für unseren armen Verstand nicht. Aber Gott ist auch beim anderen.

Wie können wir aber, umgekehrt, dann denken, wenn wir im Heiligen Geist spüren, dass die Tür zu den Muslimen jetzt offen steht, dass also sie und wir im selben Raum eines weiteren Glaubens ungetrennt beisammen sind? Da ist es die wichtigste Einsicht, dass wir denselben Gott verehren. Es gibt ja nur den Einen. Millionen
arabischer Christen beten zu „Allah”, ebenso wie deutsche Muslime zu „Gott”.

Auch bei der Frage nach Jesus gibt es nicht nur den Gegensatz, sondern eine grundlegende Gemeinsamkeit. Zwar nicht beim späteren Dogma vom menschgewordenen Gottessohn, wohl aber mit dem Glaubensausdruck der judenchristlichen Urgemeinde. Fachleute sind sogar der Auffassung, „dass das Judenchristentum zwar in der christlichen Kirche untergegangen ist, aber im Islam sich konserviert hat” (H.-J. Schoeps).
In der Tat: Wie sehr ist doch im Empfinden der Christenheit der echte Mensch Jesus von seiner Gottheit sozusagen aufgesogen, verdampft worden! Das Dogma hielt stets an beiden Polen des Geheimnisses fest, unsere Vorstellungskraft wird dabei jedoch überfordert.
Deshalb sollte ein ökumenisch gesinnter Christ ernsthaft damit rechnen, dass der Gott der Heilsgeschichte sich Juden und Muslimen wirklich so offenbart, wie deren Traditionen bekennen.

Der Islam entstand unter anderem als Reaktion arabischer Stämme auf das byzantinische Staatskirchentum von Funktionären, die mit dem Menschensohn wenig
im Sinn, am Allherrscher Christus aber, dem goldschwer gekrönten himmlischen Garanten ihres Kaisers, verständliches Interesse hatten. Warum soll der menschenfreundliche Gott nicht die unchristliche Kirche gedemütigt und ausserhalb ihrer wirklich Mohammed zu seinem Propheten berufen haben? Dagegen steht kein christliches Dogma! Ist der Islam also eine fremde Religion oder eine nachchristliche Variante innerhalb derselben Glaubenswelt? Zum Glück ist dies ein Streit nur um Worte. So oder so sind Muslime und Christen Glaubensgeschwister.

So ist Israel der Christen älterer, der Islam ihr jüngerer Bruder – deshalb soll die Christenheit nicht länger deren Beziehungen zum gemeinsamen Vater besserwisserisch schlecht machen! – Aber, kommt jetzt der Einwand, es geht doch um die einfache Frage, ob Jesus Gottes Sohn ist oder nicht, da können doch nicht alle
drei Bekenntnisse recht haben? Nun, so einfach ist zwar die Frage, nicht aber die (stets perspektivische) Antwort. Um in diesem Bild zu bleiben: Niemand darf es einem Prinzen verwehren, bestimmten Menschen gegenüber gerade nicht als Königssohn aufzutreten, sondern allein als Gleicher unter Gleichen, der er ja auch
sein will und deshalb ist. Solange feudalverdorbene Gemüter es für unmöglich ausgeben, dass der Prinz zugleich ein restlos solidarischer Mitmensch ohne hochgestellte Hintergedanken ist, so lange hat, wer sein blaues Blut leugnet, in seinen Augen nicht minder recht als wer es bekennt.

Freilich müssen wir der Lehre des Islam widersprechen, Jesus sei in Wirklichkeit „nicht gekreuzigt” worden. Wenn ein Moslem auch eine solche Nebenlehre durchaus annehmen zu müssen meint, dann stört sein Irrtum weder meinen Glauben noch meine Zuneigung zu ihm. Irren ist menschlich. Vor dem, was er wirklich glaubt, habe ich Respekt, denn es ist unfehlbar. Nicht nur Konzil und Papst sprechen j a unfehlbar,
sondern im Kern von uns allen strahlt „das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet” (Joh 1,9), und lässt alle unsere Sätze, die sich auf das Ganze beziehen, in dem Masse unfehlbar sein, wie wir sie im Angesicht von Gottes Gericht voreinander verantworten können. Wo einer das nicht kann oder wo sein Satz Endliches meint, sich gar nicht auf das Ganze bezieht, da hat er nicht geglaubt, sondern bloss irrig zu glauben gemeint. Kritik, auch scharfe, gehört also zum Dialog. Doch dürfen wir keinen Glauben als ganzen von der Wahrheit ausschliessen, denn warum sollte dasselbe Verfahren nicht auch gegen den unsrigen gültig sein?

Deshalb, Bruder Islam und Schwester Christenheit: streitet euch ruhig weiter. Das ist in jeder gesunden Familie so.

Wisst aber immer eures Gottes Blick streng und gütig über euch beiden! Und folgt dem Wort eures Menschenbruders Jesus, den Gott (wie Bibel und Koran bekennen)
zu sich in den Himmel erhöht hat. Kühn hat er seinen glaubensstolzen jüdischen Mitbürgern damals den fremdgläubigen Samariter als Vorbild hingestellt und dann gesagt (Luk 10,37): „Geh, und tu auch du desgleichen.”