Nichts Besonderes sein müssen!
Ein Plädoyer gegen die fromme Selbstbespiegelung – und für eine Haltung, die sich selbst nicht wichtiger nimmt als andere.
Der Trugschluss der Besonderheit
Vor einigen Jahren las ich das Buch „Die Liebe und ihre Henker“ des amerikanischen Psychologen Irvin D. Yalom. Zwei Passagen daraus haben mich zutiefst bewegt. Yalom beschreibt darin zwei grundlegende Fehlannahmen, die Menschen daran hindern, Krisen auf gesunde Weise zu bewältigen. Die erste lautet: „Der Glaube, etwas Besonderes zu sein, schließt ein, dass man unverwundbar, unantastbar ist – jenseits biologischer Gesetze und jenseits der Gesetze des menschlichen Schicksals.“
Dieser Gedanke trifft uns ins Mark. Wer von uns hat nicht schon einmal – bewusst oder unbewusst – geglaubt, dass Unglück vor allem die anderen trifft? Krebs? Ja, theoretisch jeden, aber doch nicht mich! Ein Autounfall? Sicher, das Risiko ist da, aber ich fahre seit Jahrzehnten unfallfrei. Und doch: Was passiert, wenn das Schicksal zuschlägt?
Yalom beschreibt, wie schmerzhaft die Erkenntnis der eigenen Gewöhnlichkeit sein kann: „Plötzlich offenbarte sich die Gewöhnlichkeit der eigenen Existenz, und die weitverbreitete Ansicht, im Leben ginge es ständig aufwärts, war in Frage gestellt.“ Wenn die Krise kommt, kann dies zu einer tiefen Kränkung führen: „Wieso ich? Womit habe ich das verdient? Das Leben ist ungerecht!“ Doch die bittere Wahrheit ist: Das Leben war schon immer ungerecht – nur hatten wir es bisher erfolgreich verdrängt.
Der Glaube an den Retter
Die zweite Fehlannahme Yaloms wiegt mindestens ebenso schwer: Der Glaube an einen Retter. Dieser Gedanke hat mich persönlich tief getroffen. Yalom schreibt: „Während uns der Glaube, wir seien etwas Besonderes, ein Gefühl innerer Sicherheit gibt, suchen wir in der zweiten Methode, dem Glauben an einen Retter, den ewigen Schutz in einer äußeren Macht.“
Hier könnte der erste Impuls sein, Yalom des Angriffes auf den christlichen Glauben zu bezichtigen. Doch ich glaube, dass seine Kritik tiefer geht. Viele Christen – ich selbst eingeschlossen – neigen dazu, ihren Glauben wie eine Art Versicherungspaket gegen Schmerz und Leid zu betrachten. Wenn wir nur treu genug glauben, wird Gott uns im entscheidenden Moment retten. Doch diese Haltung kann schnell zu einem spirituellen Narzissmus führen: „Gott wird mich retten, weil ich etwas Besonderes bin.“
Diese Selbsttäuschung zu durchschauen, war für mich ein schmerzhafter, aber heilsamer Prozess.
Die Lektion des Propheten Elia
Besonders deutlich wurde mir dies, als ich die Geschichte des Propheten Elia studierte. Nach seinem großen Triumph auf dem Berg Karmel fällt er in ein tiefes Loch. „Ich bin nicht besser als meine Väter“, klagt er verzweifelt (1. Könige 19,4). Sein Problem war weniger die äußere Bedrohung durch Königin Isebel, sondern seine innere Überzeugung, etwas Besonderes sein zu müssen. „Ich habe geeifert für den Herrn …, und ich bin allein übrig geblieben!“ (1. Könige 19,10.14).
Elia glaubte, dass Gott ihn retten müsse, weil er der einzige Treue sei. Als das nicht geschah, brach seine Welt zusammen. Doch Gott zeigt ihm, dass seine Pläne größer sind als die Selbstinszenierung eines einzelnen Propheten. Gott braucht keine Menschen, die Feuer vom Himmel fallen lassen – das kann er auch allein.
Wahre Stärke: Nichts Besonderes sein müssen
Aus dieser Erkenntnis erwächst eine befreiende Wahrheit: Wahre Stärke zeigt sich darin, nichts Besonderes sein zu müssen. Die Menschen, die in meinem Leben den tiefsten Eindruck hinterlassen haben, waren gerade diejenigen, die diese Kränkung überwunden hatten. Sie mussten weder aus ihrer Stärke noch aus ihrer Schwäche etwas machen. Sie vertrauten Gott – nicht als Absicherung für ihr Selbstbild, sondern als ihren Herrn.
Solche Menschen strahlen eine besondere Art von Gelassenheit und Stärke aus. Sie müssen sich selbst nicht mehr beweisen. Sie müssen keine geistlichen Höhenflüge vorweisen, um sich ihre Zugehörigkeit zu Gott zu sichern. Ihr Glaube ist geprägt von einer kindlichen Einfachheit und einem tiefen Vertrauen, das auch dann Bestand hat, wenn die Dinge nicht wie erhofft verlaufen.
Der strukturelle Narzissmus unserer Gemeinden
Doch dieses Ideal steht im scharfen Kontrast zu den oft subtilen Erwartungen in unseren Gemeinden. In einem System, das ständig vergleicht und bewertet – sei es die Größe des Gottesdienstes, die Professionalität des Lobpreises oder die Zahl der Ehrenamtlichen – fällt es schwer, einfach nur gläubig zu sein. Wir laufen Gefahr, den starken, erfolgreichen Mitarbeiter zur Norm zu erklären. Wer sich nicht ständig steigert, wird schnell übersehen.
Hier gilt es, radikal umzudenken. Jesus selbst widerstand der Versuchung, etwas Besonderes sein zu müssen. Er, der wahrhaft besondere Mensch, wies die Selbstinszenierung entschieden zurück. Sein Weg führte nicht auf die Bühnen der Welt, sondern ans Kreuz – der Ort, an dem alle Masken fallen.
Keine Heiligen, sondern einfache Glaubende
Die wahre Herausforderung besteht darin, die fromme Selbstbespiegelung aufzugeben – sowohl die der Stärke als auch die der Schwäche. Es geht darum, sich selbst nicht wichtiger zu nehmen als andere. Menschen, die das verstanden haben, sind wie Sauerteig in unserer Welt: unscheinbar, aber kraftvoll.
Am Ende bleibt die einfache, aber revolutionäre Wahrheit: Wir müssen nichts Besonderes sein. Der Glaube an Christus ist kein VIP-Ausweis für die geistliche Elite, sondern die Einladung, unser Ego loszulassen. Wer dies verstanden hat, gewinnt die Freiheit, anderen zu dienen – ohne Berechnung, ohne Angst und ohne die ständige Sorge, nicht zu genügen.
Vielleicht liegt gerade hierin die größte Stärke: sich selbst nicht zu wichtig zu nehmen und stattdessen auf den zu vertrauen, der uns liebt, ohne dass wir ihm etwas beweisen müssten.
Ein bisschen mehr wie diese Menschen möchte ich glauben lernen …