✠ Blog des ALTEN SOUVERÄNEN TEMPLER ORDENS (ASTO) ✠

Pius XII.: Der Papst, der vieles wusste

In einem Aufsatz für die italienische Ausgabe der Vatikanzeitung „L’Osservatore Romano“ geht Matteo Luigi Napolitano der Frage nach, was genau Pius XII. während des Zweiten Weltkriegs über die Judenvernichtung durch die Nationalsozialisten gewusst hat.

„La Lettura“, die kulturelle Wochenzeitschrift des „Corriere della Sera“, hat ein interessantes Interview mit Giovanni Coco veröffentlicht, einem Mitarbeiter des Apostolischen Archivs des Vatikans, der ein bislang unveröffentlichtes Dokument über die Vernichtungslager im Osten vorstellte. Es handelt sich um einen Brief vom 14. Dezember 1942, den der deutsche Jesuit Lothar König an seinen Mitbruder Robert Leiber, den persönlichen Sekretär von Pius XII., geschickt hat. Der Brief enthält Statistiken über die in Konzentrationslagern inhaftierten Priester, erwähnt die Lager Auschwitz und Dachau und weist auf das tragische Schicksal der Juden hin. „Die neuesten Informationen über ‚Rawa Russka‘ mit dem SS-Hochofen, wo täglich bis zu 6.000 Menschen, hauptsächlich Polen und Juden, ermordet wurden, fand ich auch durch andere Quellen bestätigt.“

Zwei befreundete Jesuiten – und Nazi-Gegner
Coco schätzt den historischen Wert dieses Briefes sehr hoch ein: seiner Meinung nach „ein einzigartiger Fall, weil er das einzige Zeugnis einer Korrespondenz darstellt, die über einen längeren Zeitraum hinweg gepflegt und fortgeführt worden sein muss“. Die Jesuitenpatres König und Leiber waren befreundet; beide waren Gegner der Nationalsozialisten. König war ein fester Bestandteil des Kreisauer Kreises, der, wie Coco erinnert, „ein deutsches Widerstandsnetz aus Katholiken und Protestanten bildete, dessen geheime Kanäle in der Lage waren, vertraulichste Nachrichten über Hitlers Verbrechen nach Rom zu übermitteln“. Leiber, so heißt es in den Dokumenten, war ein bekannter „deutscher Jesuit und Hitler-Gegner, ehemaliger Professor an der Münchner Theologischen Fakultät, Sekretär von Kardinal Pacelli, dem damaligen Nuntius in Deutschland und dem späteren Pius XII., Professor an der Gregorianischen Universität im Vatikan“. Man kann also verstehen, warum König seinen Brief an Leiber mit „Lieber Freund“ beginnt.

Informationen wie die von König übermittelten hatten den Vatikan, die Alliierten und jüdische Organisationen aus verschiedenen Teilen des von Nazi-Deutschland besetzten Europas bereits erreicht. Im selben Brief zeigt sich Pater König sehr vorsichtig und empfiehlt Pater Leiber, „diese Informationen mit äußerster Vorsicht zu verwenden, ohne ein einziges Wort zu sagen, das die Quellen verraten könnte“. Vorsicht, Umsicht, Schweigen: das waren auch die Maximen des Kreisauer Kreises und der Roten Kapelle, also der beiden Organisationen, die den Nationalsozialismus in Deutschland beseitigen wollten. (König selbst wurde nach dem fehlgeschlagenen Attentat auf Hitler gesucht und musste fliehen.) Daher war Königs Empfehlung an Leiber, wie Coco sagt, „eine Aufforderung zum Schweigen, um das Netz des deutschen Widerstands gegen den Nationalsozialismus nicht zu gefährden“. König wörtlich: „Die Zahlen sind offiziell… Es gibt auch einen Bericht von mehreren Zeugen […]. Beide Anhänge wurden unter großem Risiko beschafft. Nicht nur mein Kopf ist in Gefahr, sondern auch die Köpfe anderer, wenn sie (d.h. diese Zahlen) nicht mit äußerster Vorsicht und Sorgfalt verwendet werden…“.

Ein Nuntius, der sich nicht täuschen ließ
Mit diesem Dokument, so Coco, „haben wir nunmehr die Gewissheit, dass Pius XII. von der deutschen katholischen Kirche genaue und detaillierte Informationen über die an den Juden verübten Verbrechen erhalten hat. Es wird auf das Lager in Belzec, nicht weit von der ukrainischen Stadt Rava-Rus’ka, verwiesen, wo zwischen dem 5. und 11. Dezember 1942 mehr als fünftausend Juden erschossen wurden […]. In dem Brief wird aber auch ein anderer Bericht erwähnt, der uns noch nicht bekannt ist und der sich auf Auschwitz bezieht.“ Diese Feststellung muss aber in Anbetracht der Kriegszeiten und der Schwierigkeiten, Informationen zu verifizieren, wohl etwas relativiert werden.

So teilte der italienische Konsul in Odessa am 1. Juni 1943 seiner Regierung mit, dass Pius XII. „den Wunsch geäußert hat, direkt auf die rumänische Regierung einzuwirken, um eine humanere Behandlung der Juden zu erreichen“, und dass er zu diesem Zweck den apostolischen Nuntius in Bukarest, Andrea Cassulo, nach Transnistrien geschickt habe. „Der Nuntius“, schrieb der italienische Konsul, „hat sich vom ‚gezähmten‘ Ghetto, das ihm gezeigt wurde, nicht täuschen lassen“. Was die antisemitische Gewalt anbelangt, so bemerkte der Konsul, dass es „schwierig ist, Zahlen zu nennen, aber viele Tausende, vielleicht Zehntausende von Juden wurden beseitigt und verhaftet“. Als der Konsul die Vertreibung der Juden aus Odessa und die unmenschliche Behandlung durch die Deutschen im „grausamsten Winter“ (Dezember 1941-Januar 1942) beschrieb, stellte er fest, dass es schwierig sei zu sagen, ob die repressiven Maßnahmen aufgehört hätten, und dass vieles von den örtlichen Gegebenheiten abhänge.

Wie zuverlässig sind die Quellen?
Die Vergewisserung über die Realität der vielfältigen Situationen und insbesondere über die Zuverlässigkeit der Quellen war die Sorge aller Anti-Nazi-Organisationen. Der Jurist Paul Guggenheim, der die Genfer Niederlassung des Jüdischen Weltkongresses leitete, blockierte Nachrichten über Vernichtungslager, die sein Untergebener Gerhart Riegner an die britischen und amerikanischen Juden und ihre Hilfsorganisationen weitergeben wollte. Guggenheim forderte Riegner auf, zunächst die Erwähnung der großen Krematorien zu streichen und dann (im heute bekannten zweiten Teil der Depesche) eine Warnung vor der Unüberprüfbarkeit der Quellen hinzuzufügen.

Aus den britischen Archiven erfahren wir, dass Guggenheim Ende Oktober 1942 das amerikanische Konsulat in Genf aufsuchte, um über die Informationen zu berichten, die er zum Schicksal der Juden im Osten Europas erhalten hatte. Wir können hier den amerikanischen Konsul, Paul C. Squire, selbst zu Wort kommen lassen: „Der Informant von Professor Guggenheim bestätigt, dass es bei allen üblen Nachrichten, die Dr. Gerhart Riegner, Sekretär des Jüdischen Weltkongresses in Genf, und Herr Lichtheim von der Jewish Agency for Palestine in Genf über die jüdische Situation in Lettland zusammengetragen haben, mit Ausnahme der Berichte über die Einzelheiten der Ermordung der Juden und die Anzahl der Getöteten, zahlreiche Unstimmigkeiten in verschiedenen Berichten gibt. Nur in den wesentlichen Punkten sind sich diese Berichte einig.“ Natürlich hat Guggenheim die Krematorien mit keinem Wort erwähnt.

Die Weihnachts-Ansprache des Papstes
Bekanntlich wurde am 17. Dezember 1942 eine alliierte Erklärung veröffentlicht, in der die Verbrechen der Nazis verurteilt wurden. Dieses Dokument war ein Resultat des nachdrücklichen Drucks des internationalen Judentums auf Präsident Roosevelt, dem am 8. Dezember persönlich ein wichtiges Memorandum über die jüdische Tragödie überreicht worden war. In diesem Memorandum, das später von Washington mit London geteilt wurde, wurde festgehalten, dass die „Endlösung“ „die womögliche Auslöschung aller nicht-deutschen Völker, die im deutschen Lebensraum leben“, bedeute. Man beachte die Gleichzeitigkeit zwischen diesen Ereignissen und dem von Coco aufgespürten Dokument.

Am 24. Dezember 1942 kam es dann aufgrund der in den vorangegangenen Monaten erhaltenen Informationen zur weihnachtlichen Rundfunkbotschaft von Pius XII.. Diese Radiobotschaft wurde bekanntlich von den alliierten Massenmedien gut aufgenommen, wird aber von einigen als zu vage empfunden, da der Papst nicht ausdrücklich von Juden, sondern lediglich von einer „Abstammung“ sprach, womit er „jüdische Abstammung“ meinte. In den Archiven hat sich allerdings der Bericht über ein Gespräch zwischen Pius XII. und dem britischen Vertreter im Vatikan, Osborne, vom 29. Dezember 1942 erhalten.

„Ich hatte heute Morgen meine übliche Neujahrsaudienz beim Papst“, schrieb Osborne an seinen Außenminister. „Er wies mich an, seine herzlichen Grüße an Ihre Majestäten, den Premierminister, Sie und die britische Nation zu übermitteln. Ich habe die Anweisungen Ihres Telegramms Nr. 195 befolgt, und er hat versprochen, alles zu Gunsten der Juden zu tun. Ich bezweifle, dass es eine öffentliche Erklärung geben wird, zumal sich die Passagen in seiner Weihnachtssendung eindeutig auf die Verfolgung der Juden bezogen.“ Eine Schlussfolgerung, zu der auch mehrere Historiker durch das Studium der kürzlich zugänglich gewordenen Archivdokumente gekommen sind.

Kommen wir auf die Zuverlässigkeit der Nachrichten aus Osteuropa zurück und erwähnen wir eine weitere Episode in Bezug auf die Verurteilung der Verbrechen Hitlers. Im Jahr 1943 fassten die Vereinigten Staaten und Großbritannien den Plan, eine neue Erklärung zu den deutschen Kriegsverbrechen in Polen abzugeben. Die Erklärung wurde am 30. August 1943 publiziert und in der offiziellen Sammlung des US-Außenministeriums veröffentlicht.

Licht in der Dunkelheit der Shoah: Die Hefte des Museumsleiters
Ein Absatz, der aus der Erklärung gestrichen wurde
Ein Absatz in dieser Erklärung sollte die Gaskammern erwähnen, wurde aber später gestrichen. Und warum? Lassen wir die amerikanischen Papiere selbst sprechen. „Auf Vorschlag der britischen Regierung, die angab, es lägen nicht genügend Beweise vor, um eine Erklärung über Exekutionen in Gaskammern zu rechtfertigen, wurde vereinbart, den letzten Satz des zweiten Absatzes der Erklärung über die deutschen Verbrechen in Polen von ‚wo‘ bis ‚Gaskammern‘ zu streichen, so dass der zweite Absatz mit ‚Konzentrationslager‘ endet.”

Mit anderen Worten: Man war sich nicht sicher, dass es in Auschwitz und Birkenau Gaskammern gab.

Jedenfalls wurden die tragischen Nachrichten aus Rava-Rus’ka bereits am 1. Februar 1943 auf der Titelseite der Jewish Post behandelt. Dies ist nur ein Beispiel für die Masse der mehr oder weniger kontrollierbaren Nachrichten aus Osteuropa.

Die historiographische Debatte über Pius XII. nimmt also an Intensität zu, vor allem dank der Bemühungen der vatikanischen Archivare, die die Papiere zu seinem Pontifikat neu geordnet und erschlossen haben (wir erinnern hier an die Reihe „Ebrei“ („Juden“) des Staatssekretariats, die nicht nur wie die anderen digitalisiert, sondern seit über einem Jahr auch vollständig im Internet zugänglich ist).

Die Verwaltung des Archivmaterials zeugt somit von einem sehr hohen Maß an Professionalität aller zuständigen Mitarbeiter. Dies kann der weiteren Erforschung des Pacelli-Pontifikats nur zugute kommen.

Schreibe einen Kommentar