Berry Stundenbuch: DEZEMBER
Die Bauten, die der Künstler diesmal aus dem auffallend schmalen
Himmelsstreifen schimmern lässt, gehören zu den ausgedehnten
Anlagen des Schlosses von Vincennes, das nachweisbar
bereits im 12. Jahrhundert bestand und dann vom Grossvater
des Herzogs von Berry, Philipp VII. , und später von Karl V.
so umgestaltet wurde, wie wir es auf dem Bilde sehen. Gewaltig
ragt der sogenannte Donjon, der Hauptturm, über die sieben
anderen Gebäude hinaus, wogegen die mächtige Umfassungsmauer
hinter dem Saum der lohfarbenen Waldwipfcl mehr zu
ahnen als zu sehen ist. Im Schlosse von Vincennes wurde der
Herzog von Berry am 30. November 1340 geboren. Fünfundsiebzig
Jahre alt war er, als er diese Miniatur malen liess, und
so kann man sich leicht vorstellen, welche Gefühle und Gedanken
ihn angesichts des vertrauten Ortes bewegten, wie dieses Bild
gleichsam zu einer Vision seines Lebens werden musste, zu einer
Vision von Kindheitserinnerungen und Jugenderlebnissen. Es
entspricht dieser Gefühlsstimmung, wenn der Künstler, mit
einem erstaunlichen Einfühlungsvermögen, das nun vom winterlichen
Hauch umflirrte Schloss ferner als die übrigen in den
Hintergrund rückte. Eine kleine höfische Geste des Malers gegenüber
seinem hohen Herrn mag es sein, dass er den Dezember,
den Monat der Heiligen Geburt, zur Darstellung dieser Gedenkstätte
wählte. Die eigenartige Kunstweise Paul von Limburgs
schliesst es nicht aus, auf dem gleichen Blatt die wilde Jagdszene
zu malen, eine jener, wie sie der Herzog so oft in den Wäldern
von Vincennes erlebt hatte. Auf einer mit reizenden Einzelheiten
gekennzeichneten Waldblösse stürzt sich eine Meute blutlechzender
und fletschender Doggen auf einen Eber; die wütenden
Hunde verbeissen sich in ihn und sind nur mit Mühe davon
abzuhalten, ihn zu zerfleischen. Die geschmeidigen Körper dieser
unbarmherzigen Verfolger sind von einer kraftgespannten Lebendigkeit,
deren künstlerische Ausdrucksstärke nur noch in den
Tierbildern Pisanellos ihresgleichen hat. Der blaugekleidete
Jäger stösst in das Horn und verkündet der Jagdgesellschaft,
dass das Wild gestellt ist. Bald wird der Tod dieser schauerlichen
Szene ein Ende bereiten, und in die gestörte Stille der Wälder
von Vincennes werden, glcichnishaft für das ganze Dasein, wieder
Ruhe und Frieden einkehren.