– Vom friedlichen Pilger zum kämpfenden Kreuzfahrer

VOM FRIEDLICHEN PILGER ZUM KÄMPFENDEN KREUZFAHRER

Was seit einigen Jahren zur Sache moderner Sinnsucher wurde, besass im Mittelalter einen völlig anderen Stellenwert. Die Christlichen Pilgerfahrten jener Zeit waren keine Reisen zum eigenen Selbst, sondern von dem Gedanken der Busse getragen und der Wunsch, sich von quälender Sündenlast zu befreien. Auch pilgerte man, um zu danken: für die Heilung von Krankheit, für die Erhörung der Gebete oder die Befreiung aus einer Notlage. Man meinte, an heiligen Orten Gott näher zu sein, ihm dort die eigenen Bitten unmittelbarer vortragen zu können. Mitunter gaben aber auch weltliche Motive den Ausschlag, wie Abenteuerlus oder der Wunsch, der Enge des mittelalterlichen Lebens zu entfliehen.

Bereits ab dem 3. Jh. wurde Jerusalem und vor allem das Grab von Christus das Ziel von Pilgern. Eine der ersten prominenten Pilgerinnen war die heilige Helena, die Mutter Konstantin des Grossen, die zu Beginn des 4. Jh. nach Palästina reiste und der Legende nach die erste Kreuzreliquie nach Rom brachte. Konstantin liess daraufhin die Grabeskirche errichten und machte damit den Ort für Wallfahrten noch attraktiver.
Auch die Gräber der Apostel Petrus und Paulus in Rom entwickelten sich zu beliebten Pilgerorten. Die legendäre Grabstätte des heiligen Jakob in Santiago di Compostela entdeckte man indessen erst um 830, und es sollte noch dauern, bis sie zu einer der populärsten Pilgerstätten des Mittelalters wurde.
Bis dahin sorgte der Kosmos christlicher Heiliger, bestehend aus Märtyrern, Mönchsvätern und Wunderheilem, mit seinen Gräbern und Reliquien ständig für neue Pilgerziele. Hier allerdings soll es vor allem um die heiligen Stätten Jerusalems gehen, wo ja auch die Ursprünge des Templer-Ordens lagen.

Vorbereitung für die Pilgerreise

Obwohl Jerusalem viel schwieriger zu erreichen war als andere Orte, blieb es doch der bedeutendste Wallfahrtsort. Bereits im 5. Jh. soll es in der Stadt und seiner näheren Umgebung 200 Klöster und Hospize für die Pilger gegeben haben. Die Eroberung Jerusalems durch muslimische Araber im Jahre 638 führte nur zu einer kurzen Stockung des Pilgerverkehrs, da der Islam die „Buchreligionen” der Christen und Juden tolerierte. Dennoch gab es immer wieder auch christenfeindliche Perioden, die in der Zerstörung der Grabeskirche (1008/09) und anderer Gotteshäuser durch den Kalifen al- Hakim ihren Höhepunkt fanden.

Ein Pilger musste eine Reihe von Vorbereitungen treffen, bevor er sich auf die Reise
machen konnte. So war es üblich, dass er in der Kirche ein öffentliches Gelübde über
sein Pilgervorhaben ablegte und vom Priester absegnen liess. Damit wurde er Mitglied einer religiösen Bruderschaft, die ihn mit seiner Pilgertracht ausstattete. Ausserdem unterstützte sie sein Vorhaben in manch anderer Hinsicht, so garantierte sie ihm die freie Unterkunft und Verpflegung auf den Hospizen seiner Strecke. Da die geographischen Kenntnisse äusserst beschränkt und die Verkehrswege schlecht und zudem kaum ausgeschildert waren, leistete man auch Hilfe beim Erstellen der Pilgerroute.

Auch wurde über die zahlreichen Gefahren aufgeklärt, die unterwegs warteten. Neben dichten Wäldern und unwegsamen Sümpfen waren Räuberbanden eine emstzunehmende Bedrohung. Wer Pech hatte, fand sich nach einer Entführung als leibeigener Landarbeiter wieder. Wohlhabende Pilger kamen zuweilen erst nach einem erpressten Lösegeld wieder frei. Aus der berechtigten Sorge, die Heimat nicht wiederzusehen, setzten viele vor der Reise ihr Testament auf. Hatte der angehende Pilger seine weltlichen Angelegenheiten geklärt, seine Schulden bezahlt, den Besitz versorgt und, wenn nötig, die Erlaubnis seines Lehnsherrn eingeholt, konnte die Reise endlich losgehen.

Von der bewaffneten Wallfahrt zum Kreuzzug

Brachen zunächst meist Einzelne oder kleinere Gruppen zu den Wallfahrten auf, so begann man im 11. Jh., die Reisen im grossen Stil zu organisieren. Eines der umfangreichsten Pilgeruntemehmen war die grosse deutsche Wallfahrt ins Heilige Land von 1064, zu der sich um die 10.000 Teilnehmer aus verschiedenen Regionen zusammenfanden. Seitdem gehörte das Spektakel einer Massenwallfahrt zum festen Bild des Mittelalters.

Diese fromme Völkerwanderung wurde von Erzbischof Siegfried von Mainz gemeinsam mit anderen Bischöfen angeführt. Der Zug setzte sich aus den „besten”
Teilen der Gesellschaft zusammen und konnte mit Grafen, Herzögen, Rittern und allerlei edlen Damen und Herren aufwarten. Der prächtig ausgestattete Tross demonstrierte selbstbewusst seinen Wohlstand. Was das eigene Volk und die Muslime beeindrucken sollte, erwies sich jedoch als gefährlicher Nachteil. Über zwei Drittel der Pilger verloren nicht nur ihren Schmuck, kostbare Gewänder und Gold, sondern auch ihr Leben. Das Nahen eines so kostbaren Pilgerzuges hatte sich nämlich herumgesprochen – er wurde von einer muslimischen Armee erwartet und überfallen.
Als türkische Seldschuken im Jahre 1077 Jerusalem eroberten, spitzte sich die Lage weiter zu. Immer häufiger berichteten heimkehrende Pilger von Behinderungen der Wallfahrt. Vor diesem Hintergrund entwickelte sich die Idee eines Kreuzzugs.

Bereits im Vorfeld der Kreuzzüge war es zu einer eigentümlichen Umdeutung des Pilgerwesens gekommen. Der friedliche Charakter der Wallfahrt war bisher eine Selbstverständlichkeit gewesen, und Pilger führten keine Waffen bei sich. Die Kirche selbst jedoch war zunehmend in kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt:
Papst Leo IX. setzte 1053 sein Heer gegen die Normannen in Süditalien ein, Papst Alexander II. rief 1064 zur Teilnahme an der Reconquista in Spanien auf. Sein Nachfolger Gregor VII. plante 1074 erstmals einen Kreuzzug zur Befreiung des Heiligen Grabes. Die Bereitschaft zur Gewaltanwendung setzte sich in der Kirche mehr und mehr durch.

Auf der Synode von Clermont vermischte Papst Urban II. die verbreitete Tradition des Pilgerns mit der Idee eines heiligen Krieges gegen die Glaubensfeinde zu dem Konzept der bewaffneten Wallfahrt nach Jerusalem. Hätte es nicht seit Jahrhunderten die Wallfahrten dorthin gegeben, hätten sich wohl kaum so viele Menschen
davon begeistern lassen, das Heilige Land zu erobern. Dabei kam Urban auf einen weiteren geschickten Schachzug: den Ablass. Spätestens seit dem 10. Jh. war die Auffassung verbreitet, dass der Besuch einer heiligen Stätte zur Vergebung der Sünden führe. Die Kirche hatte sich darauf eingestellt und die Pilgerreise in den Kanon ihrer Bussstrafen aufgenommen. So galt die klassische Pilgerfahrt als Ersatz für eine irdische oder himmlische Strafe zuvor gebeichteter Sünden. Das entsprechende Strafmass liess sich reduzieren und der Verbleib im Fegefeuer verkürzen.

Um nun möglichst viele Teilnehmer für den Kreuzzug zu gewinnen, kam Urban auf den Gedanken, statt des gängigen Teilablasses den Kreuzfahrern einen vollkommenen Ablass zu gewähren. Dieser war eine Art Freibrief, der von allen bisherigen – und künftigen – Sünden freisprach und einer Garantie für das Paradies gleichkam. Somit vergab die Kirche mit Beginn des 1. Kreuzzugs 1096 für die Jerusalemfahrer zwei unterschiedliche Klassen von Ablass: neben der üblichen Standardvariante für einfache, friedliche Pilger also die totale Sündenvergebung für den Kämpfer.

Leihpilger und Bluthostien

Nachdem das erste Kreuzfahrerheer Jerusalem 1099 erobert hatte, wurden in den folgenden Jahren verschiedene Ritterorden gegründet, in denen sich sakrale, soziale und militärische Ziele miteinander verbanden. Neben dem Templer- Orden, der sich als erster formierte, und den Johannitern entstanden noch einige kleinere. Sie sollten für den Schutz der Pilger verantwortlich sein, für die Pflege der Kranken und Schwachen sorgen und den Kampf gegen die Glaubensfeinde aufnehmen. Mit der Zeit verlagerten sich ihre Schwerpunkte jedoch immer mehr zur militärischen Seite hin. Auch im muslimisch besetzten Spanien kämpften die Templer, wo es mit dem
Grab des heiligen Jakob ebenfalls eine Pilgerstätte von überregionaler Bedeutung gab.

Im Heiligen Land verschlechterten sich die Bedingungen für die Pilger erneut, nachdem die Muslime im 12. Jh. Gebiete zurückerobern konnten. Auch deshalb entstand das Phänomen der stellvertretenden Wallfahrt: Jene, die durch Krankheit, Alter oder einen anderen Grund am Pilgern gehindert wurden, konnten sich nun einen
Ersatzpilger „anheuern”, der dafür entlohnt wurde. Wenn diese Praxis auch sehr umstritten war, so wurde sie von der Kirche doch gebilligt und mit der Zeit immer grosszügiger ausgelegt. Wer wohlhabend war, verfügte mitunter testamentarisch, dass nach seinem Tod ein Leihpilger einzusetzen sei, um das eigene Strafmass im Fegefeuer zu verringern.

Die Rückeroberung Jerusalems durch Saladin im Jahr 1187 liess die Besucherströme stark zurückgehen. Erst im 14. Jh. belebten sich die Pilgerzahlen wieder, und das 15. Jh. gilt sogar als Goldenes Zeitalter der Jerusalemfahrt. Dennoch bewirkte der christliche Rückzug aus dem Orient, dass europäische Pilgerziele an Bedeutung gewannen.

Papst Bonifaz VIII. lockte die Pilger ab dem Jahr 1300 mit einem regelmässig wiederkehrenden Sonderablass nach Rom. Santiago de Compostela war mittlerweile zu einem Pilgerzentrum aufgestiegen, und Wallfahrtsorte, die sogenannte Bluthostien oder Blutreliquien besassen, waren nach wie vor beliebt. Bereits im späten Mittelalter entwickelten sich aus der Marienfrömmigkeit auch Pilgerfahrten zur „Mutter Gottes”, wie ins italienische Loreto.

Und wie steht es heute um das mittelalterliche Traumziel der Pilger und Kreuzfahrer? Für Christen besitzt Jerusalem vermutlich immer noch die stärkste Anziehungskraft. Natürlich sind die Reisen heute nicht vergleichbar mit den Mühen und Gefahren des Mittelalters. Doch eines hat sich seit damals nicht verändert: Palästina ist nach wie vor ein Konfliktherd verschiedener Kulturen und Religionen, Gewalt und Krieg sind
gegenwärtig, und leider sieht es so aus, dass sich das in absehbarer Zeit kaum ändern wird.
(Codex)

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