Im Islam wird Jesus durch einen Doppelgänger ersetzt

Der C. H. Beck Verlag gilt traditionell als Garant seriöser Fachliteratur. Umso hellhöriger macht ein Titel aus dem Jahr 2019: „Kein Tod auf Golgatha“. Jesus habe die Tortur am Kreuz überlebt. Bei der Folterung sei er Opfer einer Lungenverletzung geworden und in eine scheintodähnliche CO2-Narkose gefallen. Der Lanzenstich des legendären Longinus habe ihn gerettet – durch eine „gezielte Punktion“. Joseph von Arimathäa lässt Jesus gesundpflegen, der danach noch in Ostsyrien lebt, während die ursprüngliche Gemeinde eine „Christusbotschaft“ entwickelt, die sich von der originalen „Jesusbotschaft“ unterscheidet. Alte Theorien, noch einmal zusammengemixt und als Sammlung außerchristlicher Jesusrezeption herausgegeben, könnte der Leser denken. Doch weit gefehlt. Der Autor meint es ernst.

Es handelt sich um den Historiker Johannes Fried, der jahrelang als Referenz in der deutschsprachigen Fachwelt galt. Einst war Fried ein führender Mediävist, der Standardwerke schrieb. Nachdem Fried in Historikerkreisen irritierende Thesen veröffentlicht hatte – so etwa über einen fixierten Vertrag zwischen Kaiser Heinrich IV. und Gregor VII. in Canossa –, entfremdete er sich der Fachwelt erst recht mit seiner eigenwilligen Behauptung, den Heiligen Benedikt von Nursia hätte es nie gegeben.

Geheimnisvoll verpackt wird die “neue Wahrheit” verkündet

Frieds Jesusbuch offenbart zwei Aspekte. Erstens, dass trotz postchristlicher Gesellschaft die Person Christus immer noch eine so große Faszination besitzt, dass er als Skandalthema reicht. Zweitens, dass es keine Rolle spielt, wie überzeugend die Belege und wie sicher die Quellen für die jesuanischen Revolverblätter sind. Wichtiger ist die „wahre“ Erzählung im Gegensatz zur offiziellen Deutung. Da gelten bei Fried islamische Weisheitsbücher aus dem 11. Jahrhundert als aufschlussreicher als urchristliche Quellen aus den ersten beiden Jahrhunderten; und das Johannesevangelium als historisch erstes Evangelium, während Lukas nur eine Verfälschung des ersten richtigen Evangeliums, das des Erzhäretikers Marcion nämlich, sei.

Fried arbeitet in seinem Werk ähnlich wie viele säkulare Deuter der Jesus-Ereignisse vor ihm: Prämissen werden ausgegeben, weil der Autor von ihnen eher überzeugt ist, indes er das Publikum nicht in das ganze Bild einweiht. Dass apokryphe Schriften nicht nur aus katholisch-theologischer, sondern auch aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive zu beanstanden sind, hat sich immer noch nicht herumgesprochen. Die neue, die unbekannte Quelle gilt qua Entdeckung bereits als aufschlussreicher als die offizielle Geschichtsschreibung, obwohl möglicherweise plausible Gründe existieren, dass die Folgegeneration kein Interesse mehr an ihr hatte.

„Interessant sind nur jene gnostischen Traktate,
die insbesondere die heutige christliche Sicht abwertet.“

Seit ihrer Entstehung haben apokryphe Schriften die Fantasie jener beflügelt, die an der traditionellen Überlieferung zweifelten. Dass die Quellen dabei weniger unvoreingenommen untersucht werden, als die meisten Wahrheitssucher zugeben wollen, zeigt sich bereits an der Gewichtung: Niemand käme auf die Idee, das Jakobus-Evangelium, das in vielen Bereichen die Marien-Dogmen abrundet, zu verwenden; oder die Petrus-Offenbarung, die in ihrer Höllendarstellung prä-dantesque auftritt. Interessant sind nur jene gnostischen Traktate, die insbesondere die heutige christliche Sicht abwertet.

Gerade die Apokryphen geben Aufschluss darüber, dass abwegige Jesuserzählungen kein Eigentum der Aufklärung sind. Sie gehören zu einem Korpus, der in einer religiösen Sphäre bleibt. Dazu zählt auch Jesu Deutung im Islam. Zwar wird die Gottessohnschaft bestritten. Die Jungfrauengeburt, die Wunderheilungen und den Ehrentitel Christus kennen jedoch auch die Muslime. Anders als im Neuen Testament wird Jesus jedoch nicht gekreuzigt, sondern durch einen Doppelgänger ausgetauscht. Ähnlich wie bei Fried lebt Jesus weiter. Die Ahmadiyya-Gemeinschaft glaubt, Jesus sei sogar nach Indien gewandert und in Srinagar bestattet worden, wo bis heute das Grab eines Yuz Asaf verehrt wird. Uneindeutiger gestaltet sich die Sache für das Judentum. Dem antichristlichen Philosophen Celsus erzählte ein Jude, dass Maria als Ehebrecherin bekannt war und Jesus aus einer Liaison mit einem römischen Soldaten empfangen habe. In Ägypten habe sich Jesus Zauberkünste angeeignet und dämonische Bücher über Magie studiert. Sehr ähnliche Passagen sind im Talmud zu finden, wobei jüdische Gelehrte bestreiten, dass es sich bei dem erwähnten Jesus zwangsläufig um Jesus Christus handeln muss.

Jeder kocht sein persönliches Süppchen mit der Figur des Jesus

Dass Christus ein „Bastard“ war, Maria eine unkeusche Dirne und der Jünger Johannes Jesu „Bettgefährte“, soll auch der englische Dramatiker Christopher Marlowe 1593 geäußert haben. So behauptet es dessen Zimmergenosse Richard Baines, ein Spion der Königin Elisabeth I. Marlowe öffnet damit den Blick auf eine andere Verschwörungstheorie, nämlich die angebliche Homosexualität Jesu; ein Thema, das erst kürzlich wegen einer Netflix-Sendung in Brasilien für Schlagzeilen sorgte, weil dort ein schwuler Jesus auftrat. Jakob I., König von England und Schottland, verteidigte seine Beziehung zum Herzog von Buckingham damit, dass „Jesus Christus dasselbe“ getan hätte: „Christus hatte seinen Johannes, ich habe meinen Georg.“ Auch Friedrich der Große deutet die homosexuelle Beziehung zwischen Jesus und dem „Jünger, den er liebte“ an, indem er dichtete: „Was meinst du wohl, was Johannes machte, damit er Jesus stets zur Seiten lag? Er machte seinen lieben Ganymed.“ Dem französischen Aufklärer Denis Diderot war nicht nur der Anwurf bekannt, dass Jesus der Sohn eines römischen Soldaten war, sondern unterstellte Jesus mindestens bisexuelle Neigungen in seinem „Versuch über die Malerei“. Der Ex-Jesuit und heute freikirchliche Pastor Robert Goss hat sogar mehrere Bücher geschrieben, in denen er Christus Homosexualität, wenn nicht wenigstens den Bruch mit „Heteronormativität“ unterstellt.

Die bekanntere sexuelle Beziehung, die sich als Verschwörungstheorie historisch durch die Zeiten belegen lässt, ist die zu Maria Magdalena. Dabei handelte es sich zuerst um einen Vorwurf, der gegen die Katharer in Südfrankreich kursierte. Der Zisterziensermönch Peter von Vaux-de-Cernay beschrieb Anfang des 13. Jahrhunderts den Albigenserkreuzzug und warf den Häretikern vor, dass diese an eine Beziehung zwischen Jesus und Maria Magdalena glaubten. Ermengaud von Béziers, der als Waldenser in die Katholische Kirche zurückkehrte, berichtete Ähnliches.

Dan Brown behauptet, sein Roman beruhe auf “Fakten”

Wie die Hypothese eines „schwulen Jesus“ sind diese Vorwürfe keine direkten Überbleibsel gnostischer Herkunft, haben aber in ihrer Rezeption insbesondere ab dem 20. Jahrhundert eine enorme Reichweite gefunden. Bezeichnend ist dabei ein Kosmos, der weit über die säkular-aufklärerische Kritik am Christentum hinausgeht; wollte das 19. Jahrhundert Jesus„historisieren“ und „entmythisieren“ und als normalen Mann darstellen, der möglicherweise sexuelle Beziehungen pflegte oder verheiratet war, so geht das 20. Jahrhundert entschieden weiter, indem die Maria-Magdalena-Fährte esoterisch aufgeladen wird. Sie nimmt die Katharerlegende nicht nur auf, sondern verbindet sie auch mit dem südfranzösischen Schauplatz und dem Konflikt zwischen provinzieller Häresie und der römischen Kirche, sowie einer möglichen Blutslinie, die bis heute überlebt hat.

Am bekanntesten ist diese Theorie durch den Roman „Sakrileg“ von Dan Brown geworden. Sie hat auch deswegen so tiefe Wurzeln geschlagen, weil Brown selbst immer wieder sagte, sein Thriller beruhe auf Fakten, „99 Prozent“ des Hintergrundes seien wahr. Dabei fußen jene „Fakten“ auf Plagiaten und einem großen Schwindel. Brown bediente sich offenbar ausgiebig an dem Buch „Der Heilige Gral und seine Erben“ von Michael Baigent, Richard Leigh und Henry Lincoln. Die Grundthesen lauten: Jesus und Maria Magdalena heiraten, Maria strandet in Südfrankreich, dort begründet sie eine Dynastie, aus der später die fränkischen Könige der Merowinger hervorgehen; der Heilige Gral sei nicht der Kelch, in dem das Blut Christi aufgefangen wurde, sondern der Bauch Mariens, aus dem die leibliche Nachfolgerschaft Jesu hervorgegangen sei; und dass es zuletzt eine geheime Gesellschaft namens Prieuré de Sion gebe, die all diese Geheimnisse bewahrt und für die Rückkehr der wahren Könige kämpften. Dass die Autoren sich dabei auf die Vorarbeit von Pierre Plantard berufen, der später zugegeben hat, dass die ganze Geschichte um die Prieuré de Sion eine Erfindung sei, verunsichert dabei weder Brown-Jünger noch andere Wahrheitssucher, die mittlerweile sogar suggerieren, der gesamte europäische Adel stamme von Jesus Christus ab.