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Berry Stundenbuch: JÄNNER

Es ist ein grossartiges Programm, das sich der Künstler für das
erste Kalenderblatt ausgedacht hat: Er lässt den Betrachter an
einem Empfang teilnehmen, den der Herzog von Berry, offenbar
zur Feier des neuen Jahres, veranstaltet. Unter einem stilisierten
Baldachin, den die frühere Abart des herzoglichen Wappens
ziert, die zahlreichen goldenen Lilien auf blauem Felde,
hat der fürstliche Gastgeber an der reichgedeckten Tafel Platz
genommen. Hinter dem Herzog brennt in einem mächtigen Steinkamin
ein Feuer, dessen aufsprühende Funken oberhalb des
geflochtenen runden Schirmes sichtbar sind. Bezeichnend für
den Zeitgeschmack in den ersten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts
ist die überschlanke Art der Gestalten in der überladenen
Pracht farbenfroher Kleider. Je länger man sich in den Anblick
der Personen vertieft, die zweifelsohne Porträtcharakter haben,
um so mehr neigt man dazu, der schon öfters gehegten Annahme
beizupflichten, die Maler wollten in dieser Darstellung nicht nur
dem Herzog, ihrem illustren Brotherrn, ein Denkmal setzen,
sondern auch dem ganzen Kreis seiner kunstfreudigen Gefährten
und Mitarbeiter. Neben dem Herzog sitzt ein hoher geistlicher
Würdenträger, in dem man einen engen Vertrauten des Herzogs
zu erblicken glaubt, den kunstsinnigen Martin Gouge, seinen
nachmaligen Testamentsvollstrecker, den späteren Bischof von
Chartres. Lässt man der Phantasie weiter freien Lauf, so darf
man auch in poesievoller Weise vermuten, wir hätten in den von
draussen kommenden Männern die Brüder Limburg vor uns.
Seltsam bizarr wirkt die künstlerische Anordnung in ihrer räumlichen
Einteilung: Anstatt eine störende Trennwand zu malen,
stellt der Künstler die Eintretenden in der Gestik und Haltung
von Leuten dar, die soeben aus der Kälte eines Wintertages in die
Wärme eines Hauses gelangen. Vordergrund und Hintergrund
gehen derart ineinander über, dass man sehr genau schauen
muss, um die Darstellungen auf den prachtvollen Wandteppichen
von den tatsächlichen des eigentlichen Raumes unterscheiden zu
können. Das Näher! Näher! das der stabtragende Haushofmeister
im Namen des Herzogs den eintreffenden Künstlern zuruft,
wird darüber hinaus zu einer Art Parole, die der Maler mit goldenen
Buchstaben an bevorzugter Stelle auf das erste dieser kostbaren
Blätter malte.

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