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Gibt es Long Covid nach der Impfung?

Brain Fog, extreme Erschöpfung, Durchblutungsprobleme: Symptome wie bei Long Covid – nur ohne Infektion. Kann man Long Covid in seltenen Fällen auch nach einer Impfung bekommen?

Long Covid nach einer Impfung – ist das möglich?
Einige Menschen berichten von Problemen, die sie seit einer Corona-Impfung haben – in sozialen Netzwerken liest man davon, in den Medien. Die Symptome, unter denen sie leiden, ähneln teilweise denen von Long Covid: Schwere Müdigkeit, Brain Fog, Schmerzen. Nur: Infiziert waren sie nicht. Kann also auch die Impfung in sehr seltenen Fällen eine Art Long Covid auslösen?
Direkt vorneweg: Noch gibt es kaum gute Daten zu dieser Frage – mittlerweile aber einen Begriff, unter dem solche Beschwerden gesammelt werden: „Post-Vaccine-Syndrom“. Medizinisch einheitlich definiert ist er allerdings nicht.

Dasselbe Krankheitsbild?
Zunächst ein Blick in die Praxis: An der Marburger Universität gibt es mittlerweile eine sogenannte „Post-Vax-Ambulanz“ für Menschen, die von solchen Beschwerden nach einer Impfung betroffen sein könnten. Auf der Warteliste stehen Tausende von Patient:innen, die Nachfrage ist hoch. Wer von ihnen tatsächlich von Long-Covid-ähnlichen Beschwerden betroffen ist, muss allerdings erst noch geklärt werden – dazu werden sie in der Ambulanz ausführlich untersucht. Auch andere Gründe könnten für solche Beschwerden sorgen, dazu gleich mehr.

Auch in Berlin an der Charité werden teilweise Patient:innen mit neurologischen Beschwerden nach der Impfung untersucht und behandelt.

Der Direktor der Marburger Klinik für Kardiologie und Leiter der Ambulanz, Prof. Bernhard Schieffer, ist sich sicher, dass Long Covid nach einer Erkrankung und nach einer Impfung eigentlich dasselbe Krankheitsbild sind – das allerdings nach der Infektion um ein Vielfaches häufiger auftrete. “Wir gehen davon aus, dass es sich um identische Phänomene handelt.”

Viele mittlerweile auch infiziert
Auch wenn sich nicht in jedem Einzelfall klären lassen wird, was die Beschwerden ausgelöst haben könnte. Durch serologische Tests lässt sich zwar prüfen, ob nicht doch schon eine Infektion vorlag. Ein Problem aber: Die Ergebnisse sind nicht immer eindeutig. Und viele Patient:innen hätten mittlerweile sowohl Impfungen bekommen als auch die Infektion durchgemacht, sodass es im Nachhinein immer schwieriger werde, die Auslöser sicher zu unterscheiden.

Schieffer schätzt aus seiner Erfahrung und aufgrund der Daten der Zulassungsstudien, dass es bei etwa 0,02 Prozent der Geimpften zu solchen Post-Vaccine-Beschwerden kommen könnte.

Es braucht systematische Studien
Verlässliche Zahlen dazu gibt es allerdings weder in Deutschland noch in anderen Ländern. Trotzdem sind einige Expert:innen überzeugt: In seltenen Fällen kann das vorkommen. Wissenschaftlich wirklich geklärt ist das aber bisher nicht. Um herauszufinden, ob die Impfung tatsächlich schuld an den Beschwerden ist und wie oft so etwas vorkommt, bräuchte es systematische Untersuchungen. Das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) plant deshalb gerade entsprechende Studien, um einen möglichen Zusammenhang mit der Impfung zu untersuchen.

Darum müssen wir drüber sprechen:
Nicht an allem, was nach der Impfung passiert, ist die Impfung schuld
Dass nach den Corona-Impfungen in seltenen Fällen Nebenwirkungen auftreten können, ist mittlerweile gut belegt. Aber nicht an allem, was nach einer Impfung passiert, ist die Impfung schuld. Probleme können auch die Folge einer schon vorhandenen Erkrankung sein oder komplett zufällig nach der Impfung auftreten. Das auseinanderzuhalten, ist gar nicht so einfach.
Deshalb sammelt in Deutschland das PEI Daten zu Nebenwirkungen der Corona-Impfungen und wertet sie regelmäßig aus. Ärzt:innen können melden, wenn sie den Verdacht auf eine Impfnebenwirkung haben. Und auch Patient:innen selbst können eine Meldung ans PEI schicken.

Laut PEI bisher kein Risikosignal
Bis zum 20. Juni 2022 wurden nach Auskunft des PEI in Deutschland bei fast 65 Millionen Geimpften etwa 192 Fälle des chronischen Erschöpfungssyndroms ME/CFS nach einer Impfung gemeldet – und 7 Fälle eines Post-Vaccine-Syndroms. Nur: Für das sogenannte Post-Vaccine-Syndrom gibt es bisher noch überhaupt keine offizielle Definition – und keine Einigkeit, was darunter genau zu verstehen ist. Das macht die Erfassung kompliziert.

Menschen mit Beschwerden nach einer Corona-Impfung sind vermutlich auch keine einheitliche Patientengruppe, viele dürften noch gar keine klare Diagnose haben. Dann tauchen sie bei der Datenbanksuche nach konkreten Erkrankungen aber nicht auf. Oder sie haben ihre Beschwerden selbst gemeldet, weil ihre Ärzt:innen es nicht getan haben.

Mehr Fälle, als zu erwarten wären?
So gebe es zu langandauernder Müdigkeit nach einer Impfung mehr Meldungen, teilt das PEI mit. Allerdings seien die Fälle medizinisch oft nicht bestätigt und deshalb schwer einzuschätzen. Das Problem: Müdigkeit kann bei vielen Erkrankungen als Begleitsymptom auftreten – bekannt ist das zum Beispiel von Krebserkrankungen. Das chronische Erschöpfungssyndrom ME/CFS dagegen wird in der Regel von Spezialist:innen diagnostiziert, die andere Ursachen vorher ausschließen.

Routinemäßig vergleicht das PEI, welche Erkrankungen nach einer Impfung gemeldet werden – und wie viele davon auch ohne Impfung zu erwarten wären. Und ermittelt so: Sind das auffällig viele Fälle nach einer Impfung, also mehr, als man eigentlich erwarten würde? Das ist laut der offiziellen Meldedaten (mit den erwähnten Limitationen) bisher nicht der Fall. „Ein Risikosignal ergibt sich auf der Basis dieser Meldungen nicht“, heißt es von der Behörde.

Auch nach anderen Impfungen, etwa gegen HPV oder Influenza, habe es ähnliche Meldungen bereits gegeben, ohne dass man in Studien einen Zusammenhang gefunden habe.

Es gibt verschiedene Erklärungsansätze
Immer wieder berichten Betroffene, dass man sie und ihre Erkrankung nicht ernst nimmt und sie seit Monaten Hilfe suchen. Und dass Ärzt:innen davor zurückschrecken, sich näher mit möglichen Nebenwirkungen der Impfung zu befassen – aus Angst, die Impfung damit in Verruf zu bringen.
Das führt dazu, dass Menschen teils auf eigene Faust und eigene Rechnung alle möglichen Therapien ausprobieren. Bernhard Schieffer kann das nachvollziehen, rät aber etwa davon ab, ungeprüft alle möglichen frei verkäuflichen Nahrungsergänzungsmittel und pflanzlichen Arzneimittel einzunehmen – und warnt vor möglichen Nebenwirkungen.

Mehrere Erklärungsansätze
Noch ist nicht nur unklar, wie häufig solche Long-Covid-ähnlichen Beschwerden tatsächlich auftreten. Sondern auch, was genau sie verursachen könnte – und vermutlich ist das auch nicht bei allen Patient:innen gleich. Es gibt aber mehrere Erklärungsansätze.

Das Spike-Protein
Bernd Schieffer von der Marburger Post-Vax-Ambulanz vermutet, dass in seltenen Fällen das Spike-Protein aus der Impfung mit einer Vorbelastung zusammenwirkt, zum Beispiel durch eine unerkannte Autoimmunerkrankung. Und dann eine Fehlreaktion des Immunsystems triggert. Allerdings komme das deutlich seltener vor als Long Covid nach einer Infektion, sagt der Marburger Mediziner – etwa 100-fach seltener, so schätzt er. Betroffen sind nach seiner Erfahrung überwiegend junge Frauen.

Autoantikörper
Eine wichtige Rolle könnten bei manchen Patient:innen auch bestimmte Autoantikörper spielen. Zum Beispiel sogenannte GPCR-Antikörper (GPCR = G-Protein-gekoppelter Rezeptor). Bei Patient:innen mit Long Covid und möglicherweise auch bei Menschen mit dem Post-Vac-Syndrom scheinen diese Autoantikörper im Blut teilweise erhöht zu sein.

Auch andere Autoantikörper werden als ein Faktor im Zusammenhang mit Long Covid diskutiert. Allerdings ist noch nicht ganz klar, was der Nachweis unterschiedlicher Autoantikörper bedeutet: Sind die Autoantikörper wirklich die Ursache für die Beschwerden – oder sind sie nur ein Faktor unter vielen?

Ein Forschungsansatz ist es deshalb, mit einer sogenannten Immun-Adsorption bestimmte Antikörper aus dem Blut herauszufiltern, um festzustellen, ob das zumindest zeitweise die Symptome verbessern kann. Und wenn ja, welchen Patient:innen man damit helfen könnte

Schlummernde Virusinfektion
Ein anderer möglicher Mechanismus für die Entstehung der Symptome ist die Theorie, dass die Impfung bei manchen Menschen eine schlummernde Virusinfektion aufwecken und dadurch Probleme verursachen kann – zum Beispiel mit dem Epstein-Barr-Virus. Solch ein Mechanismus wird für die Erkrankung ME/CFS, das chronische Erschöpfungssyndrom, diskutiert.

Zwischen dieser Erkrankung und einigen Long-Covid-Problemen sehen Expert:innen Parallelen. Und das könnte auch für Menschen zutreffen, die ein Erschöpfungssyndrom nach einer Impfung entwickeln.

Und jetzt?
Patient:innen brauchen Hilfe und Behandlungsmöglichkeiten
Betroffene und Mediziner:innen fordern mehr Mittel für Studien, um Behandlungsmöglichkeiten für Long-Covid-Erkrankte endlich wissenschaftlich untersuchen und dann auch gezielt anbieten zu können – das könnte dann eventuell auch Menschen mit Post-Vaccine-Beschwerden helfen.
In Berlin sollen in Zusammenarbeit mit anderen Universitäten für Betroffene des Chronischen Fatigue-Syndroms ME/CFS und für Long-Covid-Patienten in den nächsten zwei Jahren zahlreiche mögliche Behandlungsmethoden wissenschaftlich getestet werden.

Antikörper aus dem Blut filtern
Dabei geht es um bereits auf dem Markt befindliche Medikamente, die das Immunsystem regulieren könnten, aber auch um die sogenannte Immun-Adsorption, mit deren Hilfe Antikörper aus dem Blut gefiltert werden können. Auch Prof. Schieffer möchte in Marburg untersuchen, welche Medikamente welchen Patient:innen helfen könnten.

Das PEI will währenddessen den Zusammenhang von Long-Covid-Symptomen mit der Impfung weiter untersuchen – denn dafür wird die reine Analyse der Meldedaten nicht ausreichen: „Erkenntnisse zu Long Covid/Post-Covid nach Impfung können tatsächlich nur robust aufgesetzte Studien erbringen, wie sie vom PEI derzeit geplant werden.“

All das spricht Expert:innen zufolge aber nicht gegen die Impfung
Zum einen kommen die Beschwerden laut jetzigem Erkenntnisstand nach einer Impfung deutlich seltener vor als Long Covid nach einer Infektion. Und, so sagte es etwa Prof. Carmen Scheibenbogen, Immunologin und Spezialistin für ME/CFS von der Charité Berlin in der Hirschhausen-Doku zu Long Covid: „Wenn man so ein Mensch ist, der das Risiko in sich trägt, Autoimmunreaktionen zu entwickeln, dann kann so was vermutlich in seltenen Fällen auch durch eine Impfung ausgelöst werden. Diese Menschen hätten aber wahrscheinlich viel häufiger und viel schwerere Probleme, wenn sie eine Infektion gehabt hätten statt die Impfung, die sie vor dieser Infektion schützen könnte.“

Auch die Zulassungsbehörden betonen, dass Impfungen das Risiko für Long Covid insgesamt eher senken würden.

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