Kannte Jesus die Erbsünde?
Die christliche Lehre von der Erbsünde, wie sie später von Kirchenvätern wie Augustinus entwickelt wurde, hat keine direkte Entsprechung im Judentum zur Zeit Jesu. Die jüdische Theologie und Tradition hatten ein anderes Verständnis von Sünde, Schuld und Verantwortung, das sich grundlegend von der späteren christlichen Sicht unterscheidet.
1. Die jüdische Sicht auf Sünde zur Zeit Jesu
Der Sündenfall in der Genesis
Die Geschichte von Adam und Eva im Garten Eden (Genesis 3) ist sowohl im Judentum als auch im Christentum zentral. Im Judentum wird diese Erzählung jedoch anders interpretiert:
- Kein Konzept der Erbsünde: Im Judentum wird der Sündenfall nicht als eine „vererbte Schuld“ betrachtet. Adam und Eva handelten zwar ungehorsam gegenüber Gott, doch ihre Sünde wird als individuelles Fehlverhalten verstanden, das keine direkte Konsequenz für die gesamte Menschheit hat.
- Sterblichkeit als Folge: Die Hauptfolge des Sündenfalls ist der Verlust des Paradieses und die Einführung von Sterblichkeit, nicht eine dauerhafte „Verunreinigung“ der menschlichen Natur.
Persönliche Verantwortung
Im Judentum, insbesondere zur Zeit Jesu, galt die Regel, dass jeder Mensch für seine eigenen Taten verantwortlich ist. Dies wird unter anderem in Hesekiel 18,20 deutlich:
„Nur wer sündigt, soll sterben. Der Sohn soll nicht die Schuld des Vaters tragen, und der Vater soll nicht die Schuld des Sohnes tragen.“ Dies widerspricht direkt der Vorstellung, dass alle Menschen die Schuld von Adam und Eva geerbt haben.
2. Sünde im Kontext des Gesetzes (Tora)
Zur Zeit Jesu war die Tora, das Gesetz Gottes, die Grundlage des jüdischen Glaubens und Lebens. Sünde wurde als Verstoß gegen die Gebote Gottes verstanden, und die Versöhnung mit Gott erfolgte durch Reue, Opfer im Tempel und das Befolgen der Gebote.
- Kollektive Verantwortung: Es gab Situationen, in denen das jüdische Volk als Ganzes für kollektive Sünden zur Rechenschaft gezogen wurde (z. B. das Exil nach Babylon). Diese waren jedoch keine Folge eines vererbten Fehlverhaltens, sondern von Gemeinschaftsverstößen gegen den Bund mit Gott.
- Einzigartigkeit der Beziehung zu Gott: Sünde war ein Bruch in der Beziehung zwischen Mensch und Gott, die jedoch durch individuelle Buße oder gemeinschaftliche Rituale wie den Versöhnungstag (Jom Kippur) wiederhergestellt werden konnte.
3. Die jüdische Tradition zur Zeit Jesu
In der jüdischen Theologie zu Jesu Zeiten (einschließlich der Lehren der Pharisäer, Essener und Sadduzäer) gab es unterschiedliche Ansichten über Sünde und Erlösung:
- Pharisäer: Sie betonten individuelle Verantwortung und die Wichtigkeit des Gesetzes.
- Essener: Diese Gemeinschaft sah sich in einem Kampf zwischen Licht und Dunkelheit und legte großen Wert auf Reinheit und asketische Lebensweisen.
- Sadduzäer: Sie hielten sich an den Tempelkult und lehnten die Vorstellung eines Lebens nach dem Tod ab, was die Diskussion über „vererbte Sünde“ irrelevant machte.
Keiner dieser Gruppierungen vertrat jedoch ein Konzept der Erbsünde, wie es später im Christentum formuliert wurde.
4. Paulus und die Entwicklung der Erbsünde
Die Idee der Erbsünde wurde im Christentum maßgeblich durch den Apostel Paulus geprägt, insbesondere in seinem Römerbrief (Röm 5,12–21). Paulus interpretiert den Sündenfall als einen universellen Zustand, der alle Menschen betrifft, und betont die Notwendigkeit der Erlösung durch Jesus Christus:
- Sünde durch Adam: Paulus argumentiert, dass durch einen Menschen (Adam) die Sünde in die Welt kam und durch einen anderen (Jesus) die Erlösung möglich wurde.
- Jüdischer Hintergrund: Obwohl Paulus selbst Jude war, ist seine Interpretation stark von seiner christologischen Perspektive geprägt und nicht typisch für die jüdische Theologie seiner Zeit.
5. Warum das Konzept der Erbsünde im Judentum fehlt
Das Judentum sieht den Menschen nicht als grundsätzlich sündig oder „verderbt“ an, wie es in der Lehre von der Erbsünde beschrieben wird:
- Guter Trieb und böser Trieb: Im Judentum wird der Mensch als eine Mischung aus einem „guten Trieb“ (יצר הטוב, yetzer ha-tov) und einem „bösen Trieb“ (יצר הרע, yetzer ha-ra) gesehen. Der Mensch hat die freie Wahl und Verantwortung, seinen guten Trieb zu fördern.
- Individuelle Verantwortung: Die jüdische Ethik betont, dass jeder Mensch für seine eigenen Handlungen verantwortlich ist und nicht die Last der Sünde eines anderen tragen muss.
- Erlösung und Versöhnung: Die Verbindung zu Gott kann jederzeit durch Reue, Gebet und das Befolgen der Gebote wiederhergestellt werden.
6. Ist die Erbsünde ein Konzept für heute?
Aus jüdischer Sicht erscheint die Lehre von der Erbsünde nicht zeitgemäß, da sie dem Grundprinzip der individuellen Verantwortung widerspricht. Auch in christlichen Kreisen wird die Idee der Erbsünde zunehmend symbolisch verstanden:
- Symbol für menschliche Schwäche: Viele moderne Theologen sehen die Erbsünde weniger als vererbte Schuld, sondern als Metapher für die universelle Neigung des Menschen zu Fehlern und Unvollkommenheit.
- Fokus auf individuelle Verantwortung: Heutige ethische Vorstellungen betonen die Freiheit und Verantwortung des Einzelnen, was besser mit der jüdischen Sichtweise übereinstimmt.