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Die mystische Tradition: Eine Schule der Selbstbetrachtung und Menschlichkeit

Die mystische Tradition ist weit mehr als eine Ansammlung von Zeugnissen einiger mystisch begabter Personen. Sie ist eine große Schule der Betrachtung und Kultivierung des eigenen Inneren, wie die Theologin und Germanistin Mirja Kutzer feststellt: “Auf der Suche nach dem, was trägt, nach Gott, leuchten die Mystikerinnen und Mystiker das eigene Selbst aus und finden ein fragiles, bedürftiges, bedrohtes, trauriges, aber ebenso begehrendes, liebendes, empathisches, kreatives Ich.”
Doch wo findet dieses Ich Sicherheit? Kann es Sicherheit geben, ohne dieses Ich zu erdrücken, seine Fragilität zu negieren oder es zu entmenschlichen? Die neuzeitliche christliche Mystik stellt diese Fragen angesichts der Erfahrung der Abwesenheit Gottes. In kaum einem anderen Zeitalter waren sich Menschen so bewusst wie heute, wie fragil die menschliche Psyche ist. Die alten Garanten, die einst Existenz mit Sinn und Bedeutung ausstatteten, haben an Einfluss verloren, einschließlich der Religion. Ließe sich aus der mystischen Tradition, dieser Schule des Inneren, für heute etwas lernen?
Der Theologe Karl Rahner, dessen Todestag sich am 30. März zum 40. Mal jährt, formulierte einen sehr bekannten Satz: “Der Fromme von morgen wird ein Mystiker sein, einer, der etwas erfahren hat, oder er wird nicht mehr sein.” Doch man könnte diesen Satz, im Sinne Rahners, weiterdenken: Was wäre, wenn die Schule der Mystik nicht nur dazu beitrüge, fromm zu sein, sondern schlichtweg dazu, Mensch zu bleiben?
In einer Zeit, in der äußere Sicherheiten zunehmend brüchig werden und die Suche nach innerem Frieden und Sinnhaftigkeit immer dringlicher wird, können die Lehren der Mystik von unschätzbarem Wert sein. Die Mystikerinnen und Mystiker erinnern uns daran, dass wahre Sicherheit nicht im Besitz materieller Dinge liegt, sondern in der Erkenntnis und Annahme unserer eigenen Menschlichkeit. Sie lehren uns, die Fragilität des eigenen Ichs anzuerkennen und es als Quelle der Stärke und Empathie zu sehen. Denn nur wenn wir uns selbst verstehen und annehmen, können wir auch anderen Menschen mit Mitgefühl und Respekt begegnen.
Die Schule der Mystik ist daher nicht nur eine Quelle der Spiritualität, sondern auch eine Schule der Menschlichkeit. Sie lehrt uns, uns selbst und andere Menschen in ihrer Einzigartigkeit und Verletzlichkeit zu akzeptieren und zu lieben. Und sie erinnert uns daran, dass das Streben nach innerem Frieden und Wahrheit ein grundlegendes menschliches Bedürfnis ist, das uns auf unserer Lebensreise begleitet und uns letztendlich zu einem tieferen Verständnis von uns selbst und unserer Welt führt.

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