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Die Opfer spielen eine untergeordnete Rolle

Der Umgang der katholischen Kirche mit dem Thema und die Rolle, die Joseph Ratzinger dabei spielte.

An Joseph Ratzinger scheiden sich die Geister. Aber eines attestieren ihm auch viele, die sonst nicht gut auf ihn zu sprechen sind: Er habe zumindest früher und entschlossener als andere im Vatikan auf sexuellen Missbrauch Minderjähriger durch Priester reagiert. Sie verweisen etwa darauf, dass es Ratzinger war, der 2001 als Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre alle Bischöfe der Weltkirche dazu verpflichtete, Verdachtsfälle seiner Behörde zu melden; eine Norm, mit deren Befolgung sich bekanntermaßen mancher Bischof in Deutschland noch bis in die jüngste Vergangenheit hinein schwertat. Aber das ist nur eine Seite der Medaille. Weniger bekannt ist, wie damals in den neuen Normen der Glaubenskongregation sexueller Missbrauch behandelt wurde. Das Wort selbst kommt darin gar nicht vor. Er firmiert als „Straftat gegen das sechste Gebot des Dekalogs an einem Minderjährigen unter 18 Jahren“. Das sechste Gebot lautet: „Du sollst nicht ehebrechen.“ Sexueller Missbrauch fällt damit kirchenrechtlich in die Kategorie Verstöße gegen die Zölibatspflicht von Priestern.

In dieser Formulierung und der Logik, die ihr zugrunde liegt, ist nach Ansicht der Theologin Doris Reisinger und des Filmregisseurs Christoph Röhl „das ganze Fiasko kirchlichen Umgangs mit klerikalem Kindesmissbrauch vorgezeichnet“. Diese kirchenrechtliche Logik besage: Ein Priester, der ein Kind sexuell missbraucht, bricht in erster Linie die Zölibatsvorschrift, die Opfer spielen eine untergeordnete Rolle. Begünstigt wird eine solche Sicht, wie die Autoren in ihrem Buch darlegen, auch durch den Kontext: Sexueller Missbrauch wird in den Normen von 2001 als eines der „schwerwiegenderen Delikte“ hinter „Straftaten gegen die Heiligkeit des hochheiligsten eucharistischen Opfers und Sakraments“ und den „Straftaten gegen die Heiligkeit des Bußsakraments“ aufgelistet. Reisinger und Röhl sind nicht die Ersten, die das für einen schwerwiegenden Fehler halten. Aber sie gehen noch einen Schritt weiter als viele Kritiker. Ihre Hauptthese lautet: Ratzinger habe zwar nichts gemein gehabt mit jenen Kardinälen und Bischöfen, die in moralischen Fragen beide Augen zugedrückt hätten; aber er habe bis zuletzt nicht verstanden, dass sexueller Missbrauch nicht zuerst ein Vergehen gegen die Kirche und ihre Sakramente sei, sondern eine Verletzung des Rechts auf körperliche Unversehrtheit. Seine Maßnahmen zur Ahndung dieser Verbrechen seien deshalb zu spät erfolgt, unzureichend gewesen und hätten, dieser Vorwurf wiegt besonders schwer, vor allem dem Schutz der Kirche gedient, nicht dem der Opfer.

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