Templer - Blog

Herzog von Berry Stundenbuch

OKTOBER:

Aus dem Hotel de Nesles, der Pariser Residenz des Herzogs von
Berry, konnte man auch den hier abgebildeten alten Louvre erblicken,
jenes märchenhafte Schloss, das der königliche Bruder
des Herzogs, Karl V., auf das prächtigste ausbauen Hess, von
dem aber nur einige wenige Mauerreste erhalten blieben. Es gehört
zu den vielen wundersamen Schicksalsfügungen, dass uns
der bescheidene Raum einer Miniatur mehr Erinnern an einstige
Grösse, Macht und Schönheit zu schenken vermag, als es die
gewaltigen Baumassen selbst imstande waren. Als dieses Bild
gemalt wurde, war der Herzog von Berry ein betagter Mann, und
schon im Juni des folgenden Jahres starb er in demselben Palais,
dessen Ausblick wir auf dieser Miniatur nacherleben dürfen,
einen Ausblick auf all die zinnenbewehrten Mauern und Türme,
auf dieses Gewirr der Steildächer, auf dieses Glitzern und Flimmern
nadelfeiner Turmspitzen, deren phantastische Zahnung das
königliche Gebäude auf wahrhaft krönende Weise abschliesst.
Die mächtige Umfassungsmauer wirft das milde Licht der Herbstsonne
zurück. Leute des verschiedensten Standes haben die Stadt
verlassen und lustwandeln auf dem windgeschützten Seineufer.
Der Maler war gezwungen, sie klein wie Ameisen zu malen, dennoch
leben sie in Haltung und Gestik; ihre Gebärden sind die
Folgen von Muskelbewegungen, ihre Körperstellungen verraten
nicht bloss ihr Tun, sondern lassen sogar Schlüsse auf ihre
Wesenheit zu, was man vor allem von dem selbstbewusst stolzierenden
Manne behaupten kann. Aus Liebe zur Wirklichkeit
Hess es sich der Künstler auch nicht nehmen, von all den winzigen
Gestalten die noch winzigeren Schlagschatten im Wasser
zu malen. Am linken Seineufer verrichten zwei Männer die
Arbeit des herbstlichen Monats. Das Feld hinter ihnen ist bereits
bestellt und mit einem Netzwerk weissbebänderter Fäden gegen
die gefrässigen Vögel geschützt. Lustig anzuschauen ist die Vogelscheuche
in Gestalt eines Bogenschützen, der allerdings auf das
harmloseste in eine andere Richtung zielt, als sein Kopf gewandt
ist. Der ausgebuchtete Sack am Feldrain enthält das Saatgut;
man spürt gleichsam den Druck und das Gewicht der Körner.
Solch verborgen wirkende Kräfte zur Geltung zu bringen ist
ausschliesslich dem erlesenen Kunstvermögen vorbehalten.

Schreibe einen Kommentar