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Herzog von Berry Stundenbuch

MAI:

Auch dieses Blatt überliefert uns einen entzückenden Ausschnitt
damaligen höfischen Lebens, mit einer Kavalkade blühend junger
Menschen, die auf althergebrachte Weise das Fest des
ersten Maitages begehen. Der spielerische Geist jener Zeit feiert
in dieser wahrlich überreichen und farbenprangenden Darstellung
einen künstlerischen Triumph. Auf schön geschirrten Pferden
reitet die Jugend des herzoglichen Hofes durch einen Wald.
Es sind im reinsten Sinne des Wortes holdselige Geschöpfe, die
da graziös auf den verschiedenfarbig abgetönten Pferden sitzen
und den drei voranreitenden Kavalieren folgen, deren Kleideraufwand
sie als die höchsten im Rang und Stand ersichtlich
macht. Vor allem ist es der zurückblickende Reiter in der Mitte,
dessen schwarz-weiss-rote Gewandfarben ihn als einen Pr inzen von
könglichem Geblüt ausweisen. Der Reiter zu seiner Linken trägt
eine goldbestickte blaue Houppelande, das modische Überkleid,
mit aufflatterndem blätterartig verziertem Saum. Einem alten
Brauche folgend, haben sich alle Teilnehmer dieses Zuges mit
Laubzweigen bekränzt. Drei der jungen Damen tragen hellgrüne
Kleider; es ist dies die Tracht des «drap vert gay», die vom
königlichen Hof eigens für das Maifest geschaffen wurde. Das
Mädchen auf dem trabenden Schimmel ist die erwählte Maikönigin.
Ihr Kleid hat weit sich öffnende und herabfallende
Ärmel, und ihr Kopfputz ist von jener Art, die die Gestalt
gleichsam über sich selbst hinaus verlängert und sie stattlicher
erscheinen lässt. Angeführt wird dieser pittoreske Zug von
Musikanten, die ihre Instrumente in belebender Anordnung in
die verschiedensten Richtungen halten. Die ausdrucksvollen Gesichter
der Bläser lassen keinen Zweifel darüber aufkommen,
dass sie das Ihre dazu beitragen, dem Fest eine laut-fröhliche Note
zu geben. Hinter dem Wald heben sich die schiefergedeckten
Türme und Dächer des Schlosses und der Stadt Riom in den
azurnen Himmel. Riom war die Hauptstadt des Herzogtums der
Auvergne, das dem Herzog von Berry von seinem Vater, König
Johann dem Guten, übertragen worden war. Aus der Vielfalt der
Dächer erkennt man deutlich den mit gotischem Masswerk versehenen
Giebel der Sainte-Chapelle, die ein gütiges Geschick als
ein unvergleichliches Zeugnis der Baufreudigkeit des Herzogs
bis auf unsere Tage erhalten hat.

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