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Kennen Sie die Entwicklungsstufen des Glaubens?

Sechs Stufen unterscheidet Fowler innerhalb unserer Glau­bensentwicklung (die folgenden Ausführungen stellen rnoinc »per­sönlich eingefärbte« Paraphrase von Fowlers Gedanken dar):

1. Intuitiv-projektiv er Glaube
Diese Phase ist typisch für kleine Kinder, die Geschichten über Gott hören und diese zu lebhaften, anschaulichen Phantasien verweben – einerseits vom Paradies und von der Liebe, anderer­seits von einer Feuerhölle voller Teufel und Dämonen. Der Wert, das Geschenk, dieser Phase ist die Fähigkeit, die Welt in kraft­vollen Bilder zu erfahren, die ein Leben lang im Unbewußten verbleiben. Die Gefahr dieser Phase liegt, so Fowler, in der Möglichkeit einer »Inbesitznahme der kindlichen Vorstellungs­kraft durch ungezügelte Bilder von Grauen und Destruktivität«. In diesem Stadium der Entwicklung werden die Weichen dafür gestellt, wie wir Gottes Erste Geschichten aufnehmen und ob wir ihnen eigene Kapitel der Liebe hinzufügen oder ob wir sie unter Angst begraben.

2. Mythisch-wörtlicher Glaube
Bei Schulkindern nimmt die Imaginationskraft ab und wird durch die wörtliche, kompromißlose Annahme von Symbolen, Regeln und Moralgesetzen überlagert. Diese Weltsicht dreht sich um die Begriffe »Gerechtigkeit«, »Lohn« und »Bestrafung«. Die biblischen Geschichten werden wörtlich genommen, da dem Menschen in dieser Altersstufe die Fähigkeit mangelt, »vom Strom der Erzählungen zurückzutreten, um sich reflektierte, be­griffliche Deutungen zu bilden«. Dies ist die »Auge-um-Auge-Zahn-um-Zahn«-Gesinnung, die den Glauben Jays und des »christlichen Beraters« bestimmte.

3. Synthetisch-konventioneller Glaube
Mit dem Beginn der Pubertät bildet sich die Fähigkeit heraus,
über die eigene Familie (und über die Dogmen und Lehrsätze der »Religion der Kindheit«) hinauszublicken und eine Synthese des eigenen sich erweiternden Wissens zu erzeugen, die ein stabiles Fundament für künftige Erfahrungen bildet. In dieser Phase entwickeln wir mit anderen Worten die Fähigkeit, selbständig zu denken. Doch auch wenn wir nunmehr eine private Ideologie besitzen, sind wir noch nicht »einen Schritt zurückgetreten«, um sie systematisch und kritisch in Augenschein zu nehmen: Unsere Ideologie ist noch nicht auf die Probe gestellt worden. Erst die verschiedenen Verluste und Tragödien, die das Leben mit sich bringt, lösen diese Überprüfung aus und führen uns allmählich in die nächste Phase über.

4. Individuierend-reflektierender Glaube
Der ältere Heranwachsende beginnt, die Verantwortung für seine Überzeugungen und Handlungen zu übernehmen. Die Fähigkeit zur Reflexion, die sich in dieser Lebensphase herausbildet, führt zu einer Neubewertung des Glaubens, die Fowler zufolge durch unterschiedliche Faktoren ausgelöst werden kann: durch den Sieg der Bilder aus der Kindheit, durch eine Stimme aus dem inneren Selbst, durch die Erkenntnis der Leere oder Belanglosig­keit bisheriger Überzeugungen oder durch ein aufkeimendes Interesse für die Legenden, Symbole und Mythen anderer Reli­gionen oder Kulturen.
Nach meiner Einschätzung ist das Bewußtsein des Heranwach­senden nun bereit, die archetypischen Ersten Geschichten zu fas­sen, die ewig im Großen Unbewußten existieren – jenem Bilder­reich, mit dem wir uns in späteren Kapiteln befassen werden – und ein Leben des Abenteuers und Erwachens verkünden. »Epische« Geschichten wie E.T. und Krieg der Sterne sind oft entscheidend daran beteiligt, den heranwachsenden Geist für die Möglichkeit einer kritischen Neubewertung des Lebens zu öffnen.

5. Verbindender Glaube
Fowler erklärt, daß die fünfte Stufe – die häufig um die Lebens­mitte auftritt – »das Sakrament der Niederlage kennt«. In den
Jahren zwischen dem Ende der Adoleszenz und der Lebensmitte hat sich viel abgespielt: Erlebnisse, die unseren Glauben wieder­holt in Frage gestellt und immer wieder gezeigt haben, wie wenige Antworten wir auf große Fragen besitzen – Fragen wie: »Wer bin ich?« und »Was ist der Sinn des Lebens?« Während es auf den vorausgegangenen Stufen vielfach darum ging, die Grenzen der Dinge abzustecken, feiert in dieser Phase das Para­doxe Triumphe, und es entfaltet sich eine Offenheit für ehemals »andere«, »fremde« Wahrheiten. Mythen und Symbole werden auf einer tieferen Ebene begriffen, und wir haben die Chance, Teile unserer Erfahrung zu integrieren, die bis dahin verleugnet worden waren, weil sie nicht in unser Glaubensgebäude hinein­paßten.

6. Universalisierender Glaube
In dieser Phase – die, wie ich glaube, gegenwärtig mehr und mehr Menschen durchleben – handeln wir aus dem Wissen heraus, daß die Barrieren zwischen den Menschen überwunden werden müssen und daß Mitgefühl die vollkommenste Aus­drucksform von Glauben ist. Fowler nennt Mahatma Gandhi, Martin Luther King (in den letzten Jahren seines Lebens), Mutter Teresa, Dag Hammarskjöld, Dietrich Bonhoeffer, Abraham He-schel und Thomas Merton als Verkörperungen eines universali-sierenden Glaubens. Die sechste Stufe ist nicht gleichbedeutend mit »Vollkommenheit« oder »Selbstverwirklichung«. Sie hat vielmehr etwas mit dem praktischen Engagement zu tun, so Fowler, »das Reich [Gottes] zu aktualisieren«: eine Welt zu verwirklichen, die auf Verbundenheit, Verständnis, der weisen Nutzung von Naturschätzen und Güte gegründet ist.

Wenn alles gutgeht und wir uns von den Kindheitswunden erholen, die uns auf der einen oder anderen Stufe festhalten könnten, ma­chen wir im Laufe unseres Lebens alle diese sechs Phasen durch. Im Zusammenhang mit dem Übergang von einer Phase buchstabenhö­riger, naiver Gläubigkeit zu einem universaleren Glauben, in dem Metaphern und die eigene Erfahrung ein weiteres Verständnis er­
möglichen, erklärt Fowler: »Ein Faktor, der den Übergang initiiert … ist die implizite Widersprüchlichkeit bestimmter Geschichten, die zum Nachdenken über Bedeutungen veranlaßt .. . Die bishe­rige Buchstabengläubigkeit bricht zusammen . . . [und] führt zu einer nüchterneren Betrachtung früherer Lehrer und Lehren. Wi­dersprüche zwischen einzelnen autoritativen Geschichten (Genesis versus Evolutionstheorie) verlangen nach einer kritischen Ausein­andersetzung.«
Fowler charakterisierte den Glauben jenes christlichen Beraters als »zweite Stufe« und half mir dadurch zu begreifen, daß es keinen Sinn hat, mit Menschen, die noch in diesem mythisch-wörtlichen Stadium stecken, theologische Diskussionen zu führen, weil solche Gespräche für sie eine zu große psychologische Bedrohung darstel­len. Tragödien können allerdings die Buchstabengläubigkeit auf­brechen und, so schmerzlich dieser Prozeß auch ist, zu einer Hei­lung der Wunden aus der Kindheit und damit zu einem geläuterten und aufgeklärteren Glauben führen. Ebendiese Wirkung hat das Erreichen des »absoluten Tiefpunktes«. Wir können jahrelang mit den Wunden und Glaubensformen der Kindheit weiterleben, auch wenn wir uns dabei vielleicht chronisch leer und unglücklich füh­len. Aber wenn eine Krise über uns hereinbricht – mag es nun der Krebs sein oder eine Anklage wegen Trunkenheit am Steuer -, sind wir aufgerufen, die Verantwortung für die Tragödie zu übernehmen. Und das kann eine einschneidende Veränderung unseres Glaubens bedingen.

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