Predigt des h.e. Grossmeister bei der Andacht am gestrigen Tag
Die Propheten – als religiöse Volkstribunen
In den zweieinhalb Jahrhunderten nach der Spaltung
des einheitlichen Reiches Davids und Salomos folgte
eine Dynastie auf die andere unter beständigen Zwistigkeiten
und Kämpfen. Im Hintergrunde standen die
Weltreiche Assyrien und Ägypten, später auch Babylonien
und das Persische Reich, und warfen ihre riesenhaften
Schatten auf den schwachen Staat Israel.
Im gesellschaftlichen Leben Israels begann zur Zeit Salomos
ein Aufschwung im Handel und Wandel. Die
Naturalwirtschaft wich der Geldwirtschaft; ein ausgedehnter
Getreidehandel wurde die Quelle des Reichtums.
Wenn auch nach dem Gesetze Moses der Grund
und Boden unveräusserlich war, so konnte doch dieses
Gesetz auf die Dauer seine Geltung nicht behalten: mit
der überhandnehmenden Geldwirtschaft, die den
Ackerbauer immer abhängiger vom Handeltreibenden
machte, wurde es durchbrochen, um bald der Vergessenheit
anheimzufallen. Die Geldmagnaten dehnten
ihre Macht über das ganze Land aus, so dass die Ackerbauer
auf die Stufe verschuldeter Pächter oder gar um
ihr tägliches Brot arbeitender Sklaven sanken. Die Gewinnsucht
des Geldadels steigerte sich in dem Masse,
als sie keine Hindernisse auf ihrem Weg fand.
Die Propheten traten gegen diesen steigenden Reichtum
als die Ursache der Volksverarmung mit aller
Energie auf. So wendet sich Arnos an die Geldmagnaten,
die nicht eher ruhen, als bis sie sich die letzte
Scholle des armen Ackerbauers zugeeignet haben:
„Hört dieses, die ihr den Dürftigen nachstellt und die
Notleidenden im Lande zugrunde richtet, indem ihr
denkt: wann geht der Neumond vorüber, dass wir Getreide
verhandeln können, und wann der Sabbat, dass
wir die Kornspeicher auftun, dass wir für Geld die Geringen
kaufen und um eines Paares Schuhe willen und
um den Abfall vom Korn die Dürftigen verhandeln?“
Die Einzelnen glaubten von Rechts wegen Eigentümer
der Latifundien zu sein, weil sie den kleinen Besitzern
unter der Bürgschaft von Grund und Boden Geld geliehen
hatten. Jesaja hielt ihnen vor, dass sie „Haus an
Haus reihen, Feld an Feld rücken, bis kein Platz mehr
bleibt”, und dass sie es dahin gebracht haben, „allein
im Lande zu wohnen”. Und der Prophet Micha: „Begehren
sie Felder, so reissen sie sie an sich, oder Häuser,
so nehmen sie sie weg. Sie gehen mit Gewalt gegen die
Person und ihr Habe vor.“ Ein andermal ruft er aus:
„Sie reissen den Leuten die Haut vom Leibe und das
Fleisch von den Knochen, sie nähren sich von dem
Fleische meines Volkes.”
Neben dem überhandnehmenden Luxus in den höheren
Ständen ging der Mangel in den unteren Schichten
der Bevölkerung einher. Der Luxus brachte Laxheit in
den Sitten. Mit dem Reichtum mehrten sich die Bedürfnisse,
die mit Leichtigkeit befriedigt werden konnten.
Grosstun und Protzentum kamen auf. Der Adel
vergass seine Pflichten und konnte der Genusssucht
nicht widerstehen. Unvermeidlich war der Götzendienst,
der die Gebote Jahwes der Vergessenheit anheimgab:
„Ihr Land ward voll Silber und Gold, unermesslich
sind ihre Schätze, ihr Land ward voll Götzen
– vor dem Werk ihrer Hände werfen sie sich nieder, vor
dem, was ihre Finger gemacht haben. Da beugte sich
der Mensch und demütigte sich der Mann”, heisst es
bei Jesaja. Man achtete nicht mehr auf die Mittel, den
Reichtum zu mehren, so dass auch solche, die Frömmigkeit
zur Schau trugen, an ihrer Gewinnsucht nichts
auszusetzen fanden. „Bin ich doch reich geworden, habe
mir Vermögen erworben! Bei all meinem Gewinne
kann man mir keine Verschuldung nachweisen, die
Sünde wäre”, lässt Hosea den Ephraiimiten sagen. Mit
dem Verschwinden der Einfachheit und Gediegenheit,
mit dem Verlassen des geraden Weges mussten auch
Gesetzesdeuter aufkommen, die Jesaja als Schreiber
bezeichnet, die „immerfort Qual schreiben” und
durch ihre Spitzfindigkeiten das Recht auf die Seite der
Machthaber und das Unrecht auf die Seite der Bedrängten
lenken.
In den grösseren Städten, insbesondere in Samaria und
Jerusalem, mag der um sich greifende Luxus eine beträchtliche
Höhe erstiegen haben: die Propheten sprechen
von prächtigen Palästen aus Quadersteinen, von
Häusern aus Elfenbein, von köstlichen Villen, in denen
die Reichen die Sommermonate zubrachten. Von der
Prunksucht des israelitischen Adels sagt Arnos: „Sie
liegen auf Lagern von Elfenbein und räkeln sich auf ihren
Diwans; sie girren zur Harfe, bilden sich ein, wie
David zu spielen. Sie trinken den Wein aus Sprengschalen
und versalben das beste Öl, aber um den Schaden
Josephs grämen sie sich nicht!” Sänger und Sängerinnen
gehörten zu den Gelagen. In einem Lande,
das Überfluss an Wein hatte, konnte Trunksucht nicht
ausbleiben. Die Propheten klagen, dass nicht nur die
Reichen, sondern auch die Priester und selbst die Richter,
die doch klaren Kopfes und reinen Herzens ihr Urteil
zu fällen haben, sich dem Weine hingeben. Drastisch
spricht davon Hosea: „Am Festtag unseres Königs
saufen sich die hohen Herren wie fieberkrank voll
von Wein.” Und Jesaja sagt von solchen, die schon
früh am Morgen dem Rauschtrank nachgehen und
abends von Wein erhitzt bei Gelagen sitzen: „Wehe denen,
die Helden sind im Weintrinken und tapfer,
Rauschtrank zu mischen!” Die Genusssucht brachte
Verrohung und Teilnahmslosigkeit mit sich. Liederlichkeit
war ihre Begleiterin. Bei Arnos heisst es, Vater und
Sohn gingen zu derselben Hure, entweihten die Grundlagen
des Familienlebens, den Namen Jahwes. Schamlos
wurde das Laster zur Schau getragen und der Widernatürlichkeit
gefrönt: „Ihrer Sünde rühmen sie sich
wie die zu Sodom, und verbergen es nicht”, heisst es bei
Jesaja. „Morgen sind wir tot”, wurde zum Grundsatz
erhoben. An diejenigen, die weder nach Jahwe noch
nach seiner Vergeltung etwas fragten und sich oft mit
einem Witz über das Höchste hinwegsetzten, wandte
sich Jesaja: „Hört darum das Wort Jahwes, Ihr Spötter,
Ihr Spottlied-Dichter dieses Volkes von Jerusalem!
Weil Ihr gesagt habt, wir haben mit dem Tode einen
Vertrag geschlossen und mit der Unterwelt ein Bündnis
gemacht! Die strafende Geissel wird, wenn sie daherfährt,
uns nicht erreichen! Denn wir haben Lüge zu
unserer Zuflucht gemacht und mit Trug uns geborgen!
” In bezeichnenden Worten die Gefallsucht der
Frauen Zions charakterisierend, fährt er fort: „An jenem
Tage wird Jahwe abreissen die prächtigen Fussspangen
und die Stirnbänder und die Halbmonde, die
Ohrringe und die Armketten und die Kopfschleier, die
Kopfbünde und die Schrittkettchen und die Gürtel, die
Riechfläschchen und die Amulette, die Fingerringe
und die Nasenringe, die Feierkleider und die Mäntel,
die Überwürfe und die Taschen, die Spiegel und die feinen
Linnen, die Turbane und die Schleier!” E r spricht
auch von Wohlgerüchen, kunstvollem Haarputz, feinen
Schärpen und Prachtgewändern, in denen die
Frauen einherstolzierten, fern aller Einfachheit und
Gediegenheit.
Die Prunksucht und die Mode verschärften den Gegensatz
zwischen den Volksschichten: ein Klassengeist,
dem die Gesetzgebung Moses vorzubeugen gesucht
hatte, machte sich in schroffer Weise geltend, zugleich
ein nationaler Hochmut, den die Machthaber künstlich
grosszogen, ohne zu ahnen, dass sie damit ihr Volk
an den Rand des Abgrundes führten: in Verblendung
überschätzten sie ihre diplomatische Klugheit, nötigten
den König, Schutz- und Trutzbündnisse zu schliessen,
und mischten sich in die Welthändel. Die Propheten
wurden nicht müde, darauf hinzuweisen, dass der Beruf
Israels und Judas anderswo liege. Schon Hosea
wendet sich an Israel: „Hast Du doch auf Deine Streitwagen
Dein Vertrauen gesetzt, auf die Menge Deiner
Krieger. So soll sich denn Kriegsgetümmel wider Deine
Scharen erheben!” Aber Israel war nicht geneigt,
auf die Mahnungen seiner Propheten zu hören, ebensowenig
wie später Juda auf die Jesajas und Jeremias,
obschon es am Schicksal Israels ein abschreckendes
Beispiel vor Augen hatte: war doch Israel durch
Bürgerkrieg und durch Einmischung in die Politik der
Grossmächte unter die grausame Botmässigkeit Assyriens
gekommen, das unter Sargon I . im Jahre 721 seinen
Untergang besiegelte: die Vornehmen und die Reichen
wurden als Kolonisten fortgeführt und nur das
ärmste Volk verblieb im Lande, das bald einer Wüstenei
glich.
Erscheinen die Zeitalter nach aussen hin verschieden,
so sind sie es in Wirklichkeit auf einer gewissen Stufe
der Kultur im wesentlichen Sinne nicht. Der Intellekt
wächst in seinen Erfindungen und Entdeckungen, die
verborgenen Triebe und auch die offen hervortretenden
Leidenschaften der menschlichen Natur sind aber, im
rechten Lichte besehen, in verschiedenen Zeitaltern die
gleichen.
Die Propheten des Alten Bundes vertraten das Wesentliche
gegen das Verlangen vieler, es zu verhüllen und zu
verdunkeln. Sie traten mit Aufopferung und Hingebung
für das Unvergängliche ein; das Zeitliche ordneten
sie dem Überzeitlichen unter. Mit glühender Hingebung
glauben sie an die Notwendigkeit und daher
auch an die Möglichkeit, die göttlichen Gebote zu verwirklichen.
Sie sind keine Zukunftsdeuter gleich den Deutern und
Verkündigern materieller Ereignisse. Sie sind ausgeprägte
Persönlichkeiten, deren Begeisterung der gesteigerten
Lebenswahrheit gilt, Begründer einer eigenen
Welt über der des widerspruchsvollen Geschehens.
Dieses ist für sie der Stoff für die Gleichnisse ihres
Schauens. Ihre Worte können trotz den zeitlichen Verhältnissen,
die ihr Rahmen sind, nicht altern. Aus hinreissendem
Glauben hervorgegangen, teilen sie Glaubenskraft
mit. Trotz der vielfachen Veränderungen, die
unsere Ansicht von den kosmischen Gesetzen erfährt,
bleibt den Worten der Propheten ihre erhebende Wirkung
unbenommen, denn sie wenden sich an das
menschliche Innere, in welchem sie das Verlangen nach
dem Wesentlichen wecken.
Ihre Furchtlosigkeit kommt von ihrer unerschütterlichen
Sicherheit und ihrer Bereitschaft, alles zu erdulden
im Namen Gottes. Sie fühlen sich verbunden mit
der Wirklichkeit und verknüpfen die Gegenwart mit
der Zukunft. Ihre Worte strafen und erheben, verwunden
und heilen. Sie sind nicht gebunden an einen Ort.
Als religiöse Tribunen nehmen sie an allen wichtigen
Ereignissen des Volkslebens teil und suchen auf das
Volk im Sinne des Rechtes und der Gerechtigkeit einzuwirken.
Daher sprechen sie auch auf öffentlichen Plätzen.
Sie wenden sich an den König, wenn es gilt, ihn
zu belehren oder zu ermahnen, und sandten auch Episteln,
wie Elia den starken Brief an den König Joram;
sie versammelten Jünger um sich, wie Elia den Elisa,
wie Jesaja oder Jeremia, der seine Eingebungen Baruch
diktierte.
Hinter der Hülle des widerspruchsvollen Geschehens
sahen sie den lebendigen Gott. Darin hat ihre Inspiration
ihre tiefste Wurzel. Auf das geheimnisvolle Ringen
zwischen Licht und Finsternis im menschlichen Geschehen
ist ihr Augenmerk gerichtet. Mit durchdringendem
Blick erfassen sie den verborgenen Zusammenhang
der sichtbaren Gegensätze. Der Glaube an
Jahwe als den Inbegriff alles Daseins und Sinn
menschlichen Lebens ist die Atmosphäre, in der sie atmen
und weben. Die Auffassung vom Walten des
Schöpfers Himmels und der Erde tritt bei Ihnen unerschütterlich
hervor. Bei aller Glut, mit der sie reden,
sind ihre Worte gesammelt und geläutert. Zwischen
Arnos und Hosea und den Prophetenscharen, die in
früheren Jahrhunderten mit Pauken, Flöten und Harfen
einherzogen und ihre Ekstase oft den anderen mitteilten,
ist ein Unterschied, wie zwischen der geistigen
Kraft, die sich mit geläuterter Sicherheit auf den lebendigen
Gott bezieht, und einer Begeisterung, an der die
Erregtheit der Physis sichtbar ist. Könige und Machthaber
fordern sie zur Erfüllung der Gebote der Gerechtigkeit
auf. Alle knüpfen sie an den Gottesmann Mose
an, an die Verkündigung und Inspiration, die er unmittelbar
von Jahwe empfangen hat. Das Lied der Prophetin
Deborah, wohl ein ältester Bestandteil der später
zusammengefassten Heiligen Schrift, lässt die Vorstellung
von Jahwe als dem lebendigen Gotte mit ungebrochener
Kraft hervortreten. In dieser Vorstellung von
Jahwe, der sein Volk erwählt hat, um es zu erziehen,
und in dem Glauben an den endgültigen Sieg der Gerechtigkeit
gegen alle dunklen Mächte, die vor der
Macht Jahwes dahinschwinden müssen, schöpfen die
Propheten, in die Fussstapfen Moses tretend, ihre unerschütterliche
Heldenkraft.
Schon der Prophet Elia bekundet Bestimmtheit und
Unabhängigkeit eindringlichster Charakterkraft in seinem
Auftreten gegen den König Ahab und gegen die
Anhänger des Baalpriestertums. Als Prophet Jahwes
nimmt er es mit den Dienern Baals und mit dem ganzen
widerstrebenden Volke auf: „Wie lange wollt ihr
hinken auf beiden Seiten? Ist Jahwe der wahre Gott, so
wandelt ihm nach, ist’s aber Baal, so wandelt ihm
nach!” Er ist schon der Prophet in charakteristischer
Grösse.
Noch ein Jahrhundert, und seine Nachfolger ringen
mit ihrer Umgebung im vollen Lichte der geschichtlichen
Wirklichkeit. Mit welcher Kühnheit erhebt sich
der Prophet Arnos, sobald Jahwe ihn in seinen Dienst
ruft, gegen den Priester des Reichstempels und lässt die
Stimme der Wahrheit gegen alle Halbheit und Selbstzufriedenheit
vernehmen. In Arnos und Hosea tritt die
prophetische Kraft mit dem gleichen Gepräge hervor
wie in Jesaja und Jeremia, den genialsten Vertretern
des prophetischen Geistes. Fast drei Jahrhunderte sollte
das prophetische Wort in voller Blüte stehen, bis verstandesmässige
Lebensdeutung die Stelle der prophetischen
Inspiration vertrat.