Templer - Blog

✠ Die Volks- und die Hochreligion

Im Judaismus und im Christentum, das sich aus Ersterem entwickelte,
hat es stets Geheimnisse gegeben. Manchmal finden wir
verdeckte Hinweise auf sie, manchmal werden sie ausdrücklich erwähnt.
Aber sie wurden nie in jenen Erinnerungen und Briefen niedergeschrieben,
die sich zum christlichen Neuen Testament entwickelten,
wie es uns heute vorliegt. Jene Geheimnisse gab man durch
mündliche Überlieferung weiter. Die frühen Kirchenväter kannten
die heimlichen Lehren sehr gut, auch wenn sie nicht selbst mit ihnen
in Berührung kamen, denn die Existenz der Geheimnisse ist in
den Evangelien nicht zu übersehen.

Am Sabbat vor der Hinrichtung Johannes’ des Täufers predigte
Jesus am See Genezareth. Es waren so viele Menschen gekommen,
dass er ein Boot besteigen musste, um von dort aus zu sprechen.
Er lehrte seine Zuhörer mithilfe von Gleichnissen, einfachen Geschichten,
die Einblicke in das Leben boten, das die Menschen seiner
Meinung nach führen sollten. Später, als er mit seinen Jüngern
allein war, fragten sie ihn, weshalb er sich stets auf diese Art ausdrücke.
Er gab ihnen eine überraschende Antwort: Gleichnisse seien
für die Massen gedacht, doch für seine Jünger habe er eine tiefere
Wahrheit: »Euch ist’s gegeben, dass ihr das Geheimnis des Himmelreiches
verstehet.«

Aus Jesu klaren Worten lässt sich entnehmen, dass er auf zwei
Kommunikationsebenen operierte: Die inneren Geheimnisse vertraute
er seinen engen Gefährten an und die äußeren Lehren der
Öffentlichkeit. Die innere Lehre bezog sich auf das »Geheimnis
des Himmelreiches«.
Im Evangelium des Markus wird dasselbe Gespräch mit etwas
anderen Worten wiedergegeben; hier ist vom »Reich Gottes« die
Rede. Die gleiche Formulierung benutzte Lukas und, in einem anderen
Kontext, auch Johannes. Der Begriff des »Reiches« ist ebenfalls
in anderen Texten zu finden, die nie ins Neue Testament aufgenommen
wurden, etwa im Thomasevangelium. In sämtlichen Texten
stoßen wir auf ähnliche Formulierungen – »Reich«, »Himmelreich«,
»Reich Gottes«, »Reich des Vaters« – , und wir können sicher sein,
dass sich alle Bezeichnungen auf das Gleiche beziehen.

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