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Parallelgesellschaften

Wenn wir von Parallelgesellschaft sprechen meinen wir meist arabische Muslime. Das gleiche gibt es aber auch bei Juden in Amerika.

Mitten im pulsierenden Brooklyn lebt eine orthodoxe jüdische Glaubensgemeinschaft, die sich dem weltlichen Leben Amerikas entzieht – auch seinen Gesetzen und den Werten von Freiheit und Gleichheit: die Chassidim. Einblicke in eine Parallelwelt.

Heute ist Bassys Hochzeit. Sie steht in ihrem weißen Brautkleid mitten in New York, in einem riesigen Ballsaal in Brooklyn, der geteilt ist durch einen langen Vorhang. Auf der rechten Seite feiert Bassy mit den Frauen, auf der linken ihr Bräutigam Chaim mit den Männern. Die Männer tragen lange Bärte und schwarze Hüte. Am Ende des Vorhangs steht eine Band, die spielt jetzt die Beatles – mit jiddischen Texten. Getanzt wird auch getrennt, man hält sich an den Händen und dreht sich im Kreis.

Bassy entstammt einer chassidischen Familie. Die “Chassidim” sind ultraorthodoxe Juden, deren Bräuche ins 18. Jahrhundert zurückreichen. In New York leben die meisten Chassidim außerhalb Israels, an die 250.000. Es gibt verschiedene Gemeinden, von denen manche so streng sind, dass sie Fernsehen und Internet verbieten und ihre Kinder in Schulen schicken, die nicht einmal Englisch unterrichten, nur Tora und Talmud, oft 14 Stunden am Tag. Einige verbieten jegliche Art von Frauenbildern. Chassidische Zeitungen retuschierten gar Fotos, auf denen Hillary Clinton zu sehen war.

Bassy und er wirken glücklich an diesem Abend, aber auch unsicher. Eigentlich kennen sie sich gar nicht richtig. Begegnet sind sie sich zum ersten Mal vor vier Monaten in einer Hotellobby in L. A. Arrangiert hatte das Treffen ein Heiratsvermittler, der von beiden Familien konsultiert worden war. So kommen fast alle chassidischen Ehen zustande.

Zuvor hatten ihre Eltern recherchiert, ob die jeweils andere Familie einen guten Leumund hat. “Sie haben Freunde und Verwandte angerufen”, erklärt Chaim. Außerdem haben er und Bassy ihr Blut bei einem jüdischen Gen-Institut testen lassen. Da orthodoxe Juden nur unter sich heiraten, ist die Gefahr von Erbkrankheiten groß.

New Yorks Chassidim gelten als die strengsten der Welt
Bis zur bevorstehenden Nacht waren Bassy und Chaim noch nie miteinander allein. Nur im Beisein von Freunden durften sie sich treffen. Sie haben sich nie geküsst und hatten niemals Sex. Die Nervosität vor dem Moment, wenn sie gemeinsam ihren Weg gehen, ist in ihren Familien spürbar. Bassys Mutter, eine sympathische Frau mit wogendem Busen, erkundigt sich immer wieder bei den Hochzeitsgästen, ob sie glauben, dass Chaim eine gute Wahl für ihre Tochter sei. Irgendwann raunt sie: “Wenn nicht, trete ich ihm in den Hintern.”

Bassy sagt, dass es ihr nichts ausmache, keine Beziehungserfahrung zu haben. “Es ist ein Segen, dass uns die Teenagerdramen der säkularen Welt erspart geblieben sind.” Stattdessen haben die beiden vor ihrer Hochzeit getrennt voneinander ein Braut-und-Bräutigam-Seminar besucht. Dort lernen chassidische Paare, dass Verhütung verboten ist, dass Frauen keine Angst vor dem ersten Mal haben sollten und dass sich die Männer beherrschen mögen.

Alle haben ihre Wurzeln in Osteuropa, vor allem in Polen und der Ukraine. Nach Amerika kamen sie auf der Flucht vor den Nazis und den Kommunisten. Zahllose Vorfahren starben im Konzentrationslager. Die Chassidim leben vor allem in Brooklyn. Jede Familie hat durchschnittlich sechs Kinder, die meisten kommen im Maimonides-Krankenhaus zur Welt. Dort liegt der Geburtenrekord bei 74 Babys in 48 Stunden.

Im Straßenbild kann man die Gruppierungen am Äußeren der Männer unterscheiden. Bei Chabad durch die italienischen Borsalino-Hüte und Bärte ohne Schläfenlocken. Chabad hat seine Zentrale am Eastern Parkway 770. Das Haus mit seinen spitzen Giebeln ist Welthauptquartier und wird in anderen Ländern exakt so nachgebaut.

Neben dem Brautstrauß liegt die Perücke, die Bassy Schmukler fortan tragen wird. Sie wird sich ihre dunkel gelockten Haare abschneiden – das fordert die Sittsamkeit
Yasha hat sein Gebet beendet. Zur Begrüßung überreicht er ein Kärtchen: “Die sieben universellen Gesetze” steht drauf. Punkt drei: “Du sollst nicht töten.” Punkt vier: “Sei nicht homosexuell.”

Das Bärtchen des 21-Jährigen ist nur ein dünner Flaum. Yasha studiert an der Jeschiwa, der jüdischen Hochschule, und will Rabbiner werden. Er teilt sich mit drei Studenten ein Zimmer und steht jeden Morgen um sechs Uhr auf, um den ganzen Tag den Talmud zu lesen. “Wir lernen alles über die 613 Gesetze, nach denen ein Jude leben soll.”

Immer freitags ziehen Chabad-Studenten durch New York, um moderne Juden für ihren Glauben zu missionieren. Die anderen Gemeinden lehnen das ab. Satmar und Bobov halten sich für auserwählt durch Geburt. Überhaupt gibt es zwischen den Gemeinden viel Unbill. Der größte Konflikt herrscht darüber, dass Chabad seit Jahren keinen spirituellen Führer hat. Bei den Chassidim geben die Oberrabbiner in der Regel ihre Macht an die Söhne weiter, doch der letzte große Chabad-Rabbi Menachem Mendel Schneerson blieb kinderlos. Er war ein charismatischer kleiner Mann mit mächtigem Bart. Präsident Carter schrieb sich mit ihm viele Briefe. Immer sonntags verteilte Rabbi Schneerson vor seiner Synagoge Dollarnoten. Seine Beliebtheit war so groß, dass seine Jünger seit seinem Tod 1994 glauben, er würde wieder auferstehen. “Die Vorstellung eines Messias entstammt eher dem Christentum”, erklärt der jüdische Theologe Jack Wertheimer. “Daher der Streit.”

Doch im Zusammenleben unterscheiden sich die Regeln bei den Chassidim kaum. Sie haben in New York eine Parallelwelt aufgebaut, mit eigenen Bussen, in denen Männer und Frauen getrennt sitzen, eigenem Rettungsdienst und eigener Polizei: “Schomrim”, übersetzt: Hüter. Deren Männer haben zwar keine offiziellen Befugnisse, aber sie werden von den US-Behörden geduldet. Das Grundrecht auf Religionsfreiheit genießt in den USA so hohen Stellenwert, dass die weltliche Exekutive nur bei schweren Straftaten eingreift. Etwa als aufflog, dass sich Schomrim gegen Schmiergeld illegal Waffenlizenzen besorgte. Oder 2013, nachdem Schomrim-Männer einen schwulen Schwarzen krankenhausreif geschlagen hatten.

“Ich habe Cousins mit mehr als 20 Kindern”
Auch ein chassidisches Gericht gibt es. Vorsitzende sind drei Rabbiner. Ihre Urteile basieren auf dem Talmud. Jüngst urteilte das Rabbiner-Gericht im sogenannten Koscher-Pizza-Krieg. Der Wirt einer Pizzeria im Chabad-Viertel Crown Heights hatte dagegen geklagt, dass im Restaurant gegenüber ein Pizzateig nach ähnlichem Rezept gebacken wird. In New York, wo fast an jeder Ecke Pizza verkauft wird, ein absurder Vorwurf. Doch ein altes jüdisches Gesetz verbietet es, seinem Nachbarn Konkurrenz zu machen. Der Beklagte musste seine Rezeptur ändern.

Die Eröffnung einer Vernissage in Manhattan wirkt wie ein normaler New Yorker Event. In den Räumen drängen sich junge Menschen in Jeans, kurzen Röcken, manche mit Tätowierungen. Doch sie alle gehörten einst zu chassidischen Gemeinden und sind “ausgestiegen”. Die Bilder an den Wänden sind ihre Werke: Frauen mit verbundenen Augen, herumirrende Gestalten im Stadtgewimmel, jedes strahlt erdrückende Einsamkeit aus. Die Ausstellung wurde von der Organisation Footsteps organisiert. Sie hilft Aussteigern, ein Heim zu finden, Freunde, Arbeit – und psychischen Halt.

Yoseph, 27, steht vor einem Bild mit tanzenden Skeletten. Er ist groß, hat ein wenig Gel im Haar. Ein jiddischer Akzent färbt sein Englisch. 2012 verließ er die Bobov-Gemeinde. “Den ersten Konflikt hatte ich mit 14. Meine Eltern erwischten mich mit einem Taschenfernseher. So ein Ding mit Antenne, auf dem habe ich US-Serien geschaut. Meine Eltern heulten nur. Für sie war es das Schlimmste, was passieren konnte.”

Von da an, erzählt Yoseph, sei ihm klar gewesen, dass er aussteigen werde. Er las immer mehr englische Bücher, um die Sprache besser zu lernen. Mit 18 begann der Druck auf ihn zu heiraten. “Ich habe Cousins mit mehr als 20 Kindern. Das wollte ich nicht.” 2011 beim Purim-Fest, dem jüdischen “Karneval”, setzte er zum ersten Mal seinen Hut in der Öffentlichkeit ab und zog einen normalen Anzug an. “Wenn einer fragte: ‘Was ist das für ein Kostüm?’, sagte ich: ‘Ich gehe als normaler Mensch.’ Danach zog ich den Anzug einfach nicht mehr aus.”

Wer aussteigt, verliert alles
Die äußere Veränderung, so Yoseph, sei aber nicht entscheidend. “Du verlierst mit einem Mal Familie, Freunde, dein ganzes Leben. Alles, was dich in der anderen Welt erwartet, ist fremd. Ich wusste nicht, wie ich eine Frau ansehen soll. Oder welche Kleidung kaufen. Natürlich wollte ich eine Jeans. Denn eine Jeans ist der Inbegriff der säkularen Kleidung. Aber für eine blaue fehlte mir der Mut. Deshalb nahm ich erst mal eine schwarze.”

Lani Santo, die Footsteps-Vorsitzende, sagt: “Fast alle Aussteiger haben schon an Selbstmord gedacht.” 2015 stürzte sich eine 30-Jährige von einer Rooftop-Bar auf die 5th Avenue. Weltweit wurden die Zustände durch Deborah Feldman bekannt, die ein Buch über das Leben bei Satmar schrieb und dann nach Berlin flüchtete. Auch kommen viele zu Footsteps, die Opfer von sexuellem Missbrauch wurden. Es gibt so viele Fälle, dass sich ein Privatdetektiv darauf spezialisiert hat.

Joe Levin, kräftig, Anfang 40, wartet in einem Starbucks, seine Kippa versteckt er unter einer Baseballkappe. “Missbrauch aufzuklären ist deshalb so schwer, weil die Opfer nicht wissen, wem sie vertrauen können”, sagt er. Stattdessen könnten viele Täter darauf zählen, dass die Gemeinde hilft, ihre Tat zu vertuschen, um die Schande abzuwenden. “Ich hatte schon den Fall, da hat ein Rabbi Zeugen bestochen.”

Auf die Frage, ob er eigentlich selbst zu den Chassidim gehöre, zögert Levin, dann nickt er. “Wer in diese Welt geboren wurde, kann ihr nie völlig entfliehen. Doch die Verlogenheit werde ich nie ertragen.”  (Stern)

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