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Herzog von Berry Stundenbuch

MÄRZ:

Die Bildeinteilung dieser Miniatur ist massgebend für die meisten
der Kalenderblätter: Während der Künstler den vorderen und
mittleren Teil dazu benützt, das Charakteristische der einzelnen
Monate zu zeigen, krönt er jeweils den Hintergrund mit einem
der märchenhaft anmutenden Schlösser des Herzogs. Hier überliefert
er uns ein getreues Abbild der später in den Hugenottenkriegen
zerstörten Feste Lusignan, des sagenumwobenen Schlosses
der Grafen von Lusignan, deren Stammutter Melusine durch
zahlreiche romanhafte Erzählungen berühmt geworden ist. Einer
der reizendsten dieser Melusine-Romane wurde 1387 auf Bestellung
des Herzogs von Berry geschrieben. Die Sage berichtet
uns, dass Melusine dazu verdammt war, allwöchentlich einmal
von der Hüfte abwärts in eine Schlange verwandelt zu werden.
In dieser Gestalt durfte sie dann niemand erblicken, auch ihr
Mann nicht, der Graf Raymond von Poitiers, der ihr Macht und
Ansehen verdankte und dem sie nebst vielen anderen Schlössern
auch das von Lusignan erbaute. Seine Neugierde brachte Melusine
um die verdiente Erlösung. Im Bade von ihm überrascht,
verliess sie Lusignan in Gestalt einer geflügelten Schlange und
kehrte fortan nur noch zurück, wenn es galt, den Bewohnern
Tod und Unheil zu verkünden. Daran erinnert auf der Miniatur
die goldene Schlange über dem roten Ziegeldach des Turmes.
Fast die volle Breite des Vordergrundes wird von dem pflügenden
Bauern und seinem Ochsengespann eingenommen; die dreieckige
Fläche des Ackers weist spitzwinkelig in die Tiefe. In
solchen Darstellungen darf man die ersten tastenden Versuche
erblicken, sich den Raum perspektivisch zu erschliessen. Wunderbar
ist es dem Künstler gelungen, uns die Stimmung des frühen
Jahres, eines schönen Märztages ahnen zu lassen. In einem sachten
Anlauf beginnt das Leben der Natur zu pulsen, unbekümmert
um die über dem Schlosse fliegende Unheilsfee. Als diese Miniatur
gemalt wurde, war der Herzog von Berry bereits ein betagter
Mann, und es erfasst uns ein leichtes Staunen, wenn man daran
denkt, dass ihm der Maler nicht bloss den Reichtum dieses
Schlosses und seines Besitzes vor Augen führte, sondern auch
die goldgemalte Künderin jenes dunklen Schicksals, das jegliches
Dasein zu gewärtigen hat.

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