Templer - Blog

Herzog von Berry Stundenbuch

JUNI:

Weilte der Herzog von Berry in Paris, so wohnte er im Hotel de
Nesles, seinem Stadtpalais, das sich auf dem linken Seineufer
befand, eben an jener Stelle, von wo der Künstler diese Miniatur
gemalt hat. Es mag sogar sein, dass er bei seiner Arbeit aus einem
Fenster des Palais geblickt hat, hinweg über den herzoglichen
Grundbesitz, über die weiten Wiesen und den die Cite umfliessenden
Seinearm. Rechts erkennen wir die berühmte Sainte-
Chapelle, das Muster jener seit der Mitte des 13. Jahrhunderts
neuaufgekommenen kirchlichen Bauweise, deren Bestimmung es
war, die «grandes reliques» aufzunehmen. Sie stellt mit dem Filigran
ihres Schmuckes ein Wunder entmaterialisierter Baukunst
dar, deren bescheidene Ausmasse allerdings in einem abstechenden
Verhältnis zu den gewaltigen Planungen der vorhergehenden
Kathedralenkunst stehen. Links von der Sainte-Chapelle breiten
sich die Gebäüde der alten Schlossburg aus, die von den französischen
Königen bewohnt wurde, bis Karl V I . in den Louvre
übersiedelte. An demselben Platz erhebt sich jetzt der Justizpalast.
Noch weiter links im Bilde führt ein Stadttor just dort zur
Seine, wo sich heutzutage in der Mitte des Pont-Neuf das Reiterstandbild
Heinrichs I V . befindet. Auf den vorgelagerten Wiesen
aber ist bereits die Heuernte im Gange. Im gleichmässigen Rhythmus
streifen die Sensen durch das Gras, was so wirklichkeitsecht
wiedergegeben ist, dass man deren Geräusche zu hören meint.
Die nur leicht gekleideten Schnitter gehen ihrem Tagewerk mit
einem grimmigen Ernst nach; sie sind nicht bloss beobachtet und
abgebildet, sondern in der Kraft der Gebärden, die diese Arbeit
erheischt, erlebt und obendrein mit einem gewissen Ethos ausgestattet.
Ihre Urwüchsigkeit lässt einen Augenblick die Zierformen
der Hofkunst vergessen und gibt Aufschluss über die
Herkunft des Malers, über seine flämische Heimat. Die Gestalten
solcher Arbeitsfanatiker findet man künftighin noch über
Jahrhunderte hinaus in der niederländischen Malerei. In den
Vordergrundfiguren der beiden Frauen, die das Heu mit Gabel
und Rechen zusammentragen, scheint sich der Künstler sogleich
wieder seiner hohen Verpflichtung gegenüber dem gepflegten
Kunstgeschmack des fürstlichen Auftraggebers bewusst geworden
zu sein, und er malte sie, insbesondere die rechte, mit all der
zeitgebotenen Zierlichkeit.

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